Und das im Jahr 2021: Zum ersten Mal hat mit Oksana Lyniv eine Frau bei den Bayreuther Festspielen eine Oper von Richard Wagner dirigiert – und zwar exzellent. Regisseur Dmitrij Tscherniakow schwänzt Wagners Erlösungsgeschichte und erzählt stattdessen lieber ein Rache-Drama, in dem die Sopranistin Asmik Grigorian als Senta triumphiert.
Bildquelle: Enrico Nawrath / Bayreuther Festspiele
Premierenkritik – "Der fliegende Holländer" in Bayreuth
Wagners "Holländer" als Dorf-Thriller
Eines Tages kehrt er zurück. Lange hat er auf diesen Tag gewartet. Jetzt ist die Rache grausam, blutig und süß. An allen rächt er sich, am ganzen Dorf, das brennen muss. Denn Rache nimmt er für seine Mutter. Klingt echt gruselig: kein schlechter Stoff für eine Netflix-Thriller-Serie mit mittlerem Budget. Ist auch über weite Strecken recht kurzweilig erzählt. Hat nur nicht besonders viel mit dem Stück zu tun.
Regisseur Dmitrij Tscherniakow treibt Wagners "Fliegendem Holländer" die Geister aus. Ein Schauerdrama ohne Gespenster, eine Matrosen-Oper ohne Meer und Mastkorb. Dafür mit einer Vorgeschichte, die während der Ouvertüre erzählt wird. Als kleiner Junge erlebt der Holländer, wie seine Mutter eine heimliche Beziehung mit Daland hat, dem reichsten Mann im Dorf. Als der sie fallen lässt, wird sie ausgestoßen von der Dorfgemeinschaft und erhängt sich. Unter ihren baumelnden Füßen steht ihr Sohn, der kleine Junge, der später der Fliegende Holländer wird. Und eines Tages zurückkehrt…
Tscherniakow verlegt die Handlung in ein Dorf der Gegenwart irgendwo in Nordeuropa. Niedrige Backsteinhäuser formen gesichtslose Straßenzüge. Zwielicht auf schlammfarbenen Kostümen beschwört provinzielle Tristesse. In der Kneipe feiern sie, als plötzlich ein glatzköpfiger Fremdling auftaucht. Er gibt eine Runde aus und singt eine große Arie über den Wunsch, alles zu vernichten. Doch wo Wagner seine eigene Künstler-Identität in einer romantischen Figur spiegelt, die nirgendwo zuhause ist, weder im Leben noch im Tod, weil die Liebe unmöglich scheint, da folgt Tscherniakow ganz seiner filmisch-realistischen Thriller-Ästhetik. Nicht um Fluch und Erlösung geht es, sondern um einen Milieu-Krimi.
Handwerklich macht er das sehr gekonnt: Die Personenregie zeichnet eindringliche Typen, die in prägnanten Situationen aufeinandertreffen. Senta ist ein rebellischer Teenager. Gegen ihre spießige Umgebung behauptet sie sich mit roten Strähnchen und einer exzentrischen Körpersprache – großartig dargestellt von Asmik Grigorian. Und immer wieder findet Tscherniakow witzige Lösungen: Das Spinnerlied ist eine Chorprobe auf dem Dorfplatz, das Liebesduett zwischen Holländer und Senta reibt sich mit einem steifen Familienessen auf der Veranda.
Beim finalen Showdown lässt der rächende Holländer in die feiernde Menge der Dorfbewohner schießen. Warum er das macht, wissen wir dank hinzuerfundener Vorgeschichte. Doch die zentrale Frage des Stücks, nämlich warum und wie Senta den Holländer liebt, lässt der Regisseur komplett unbeantwortet. Zum Schluss erschießt dann noch Dalands Frau den Holländer. Irgendein Knall muss halt die Story beenden. Ja, Tscherniakow ist ein Geschichtenerzähler. Doch diese Thriller-Schmonzette wirkt willkürlich draufgeklatscht auf Wagners Ideendrama: unterhaltsam, aber belanglos.
Großartig dagegen gelingt das Bayreuth-Debut von Dirigentin Oksana Lyniv. Straff, energetisch, auf den Punkt. Wie sie die Orchesterbrandung hochpeitscht, dabei die Dynamik kontrolliert, Mittelstimmen hörbar macht und schwierige Übergänge koordiniert, das ist wirklich großes Kino. Aus Corona-Gründen muss der Chor geteilt werden: Auf der Bühne wird nur stumm gespielt, gesungen wird im Chorprobensaal, per Lautsprecher übertragen. Dass Lyniv unter diesen schwierigen Bedingungen die Chorszenen zusammenhält, ist bewundernswert. Nur in den lyrischen Passagen müsste sie gelegentlich mehr loslassen, den Klang zum Blühen bringen. Vielleicht gelingt ihr das, wenn der Premierenstress vorbei ist.
Georg Zeppenfeld ist schlicht ein fantastischer Daland: Die Stimme sitzt perfekt fokussiert, der Text ist Wort für Wort verständlich – ein Sänger, wie Wagners Götter ihn träumen. Eric Cutler als Erik gibt der Rolle ungewöhnliche Kraft: So energiegeladen hört man diesen verschmähten Lover nur selten. Etwas dumpf dagegen klingt manchmal John Lundgren als Holländer, vor allem im piano wirkt das gelegentlich brüchig, während sein forte durchaus Wucht hat. Was er stimmtechnisch schuldig bleibt, versucht Lundgren mit Ausdruck wettzumachen – trotz Abstrichen ein eindringliches Rollenporträt.
Und sie ist der Star, der das Publikum trampeln lässt: Asmik Grigorian. Vielleicht gar nicht so sehr, weil ihre Stimme so schön ist – vor allem ist sie intensiv. Keine jugendliche, sondern eine dramatische Senta. Ihre Töne erwischen einen, ihr gleißender Sopran berührt körperhaft. Der szenisch eher belanglose Thriller geht musikalisch unter die Haut.
Sendung: "Allegro" am 26. Juli 2021 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (5)
Samstag, 31.Juli, 21:04 Uhr
Axel Spellenberg
der Fliegende Holländer, Bayreuth 2021
Richard Wagners Musik entstammt dem 19. Jahrhundert, nicht 2021, mit der Kulisse einer stinknormalen Durchschnittsarchitektur aus Backstein und Lochfenstern. Die Romantik Wagners geht an der Banalität des genial einfallslosen Bühnenbildners und Kostümausstatters restlos verloren. Dazu passt allenfalls eine entsprechend banale und sterile Gegenwartsmusik. Aber der moderne Zeitgenosse schwelgt in Romantik, weil er nicht auch noch in der Oper sehen will, was alltäglich um ihn herum gebaut wird. Dazu hat er ein Recht und es ist die Pflicht der Künstler, ihn aus dem Alltagsgrau heraus zu reißen und für Stunden in eine ander Welt zu versetzen. Man könnte eine neue romantische Architektur und Bühnenarchitektur kreieren, aber der ausgelaugte Modernistensinn reicht nicht dazu hin. Armes Bayreuth und Wagner-Hügel, das von Backsteinfassaden à la Immobilienunternehmen heimgesucht wird. So was tue ich mir nicht an. Am besten macht man Schluß mit der Romantikmusik und lügt sich nicht ständig wasvor,
Montag, 26.Juli, 15:23 Uhr
Wilhelm Haumann
Holländer
"Zum Schluss erschießt dann noch Dalands Frau den Holländer. Irgendein Knall muss halt die Story beenden." Ganz so schien es mir nicht zu sein. Mary, die den Holländer erschießt, trägt dessen Bild in ihrer Tasche. Ihre Reaktionen zeigen, dass sie - noch immer - schrecklich in ihn verliebt ist. Offenbar hat sich der Holländer also bei einem früheren Landgang schon einmal in sie verliebt. Wenn sie dann den Holländer am Ende erschießt, wird der tatsächlich durch die Liebe einer Frau von seinem Selbstekel "erlöst". Nur ist das hier nicht Senta, sondern Mary - eine intelligente Umdeutung, die viel näher am Wagnerschen Konzept ist, als es das buhende Publikum bemerkte.
Montag, 26.Juli, 14:26 Uhr
Benditskaia Elena
Der fliegende Holländer
Ich wollte vielen Dank BR-klassik sagen! Immer perfekt übertragen, perfekt kommentiert. Immer grosse Freude für mich!????
Montag, 26.Juli, 14:05 Uhr
Peter Linder
HOLLÄNDER - nicht mehr romantische Oper
der HOLLÄNDER als Wagner-Frühwerk ist heute vielleicht in seiner Erlösungsgeschichte schwierig zu vermitteln. Aber diese massive Werkverfremdung sprengt m.E. den Werkstatt Anspruch Bayreuths.
Den ersten Akt in eine Kneipe zu legen mag ja originell sein aber schafft
wenig Bezug zum gesungenen Text. Im dritten Akt wird Wagners Erzählung übel mitgespielt und die Geschichte zu einem Tatort degradiert.
Lediglich der zweite Akt ist mit dem Chorproben Einfall eine gelungene Idee.
Ob Bayreuth mit solch schlimmen Werkvergewaltigungen ein weiteres Jahrhundert überleben wird, wage ich zu bezweifeln.
Montag, 26.Juli, 11:24 Uhr
Jutta Wilde
Musikalisch war der Fliegende Holländer ein großes Erlebnis. Aber - ich habe die Aufführung im Kino gesehen und da gibt es so einige Kritikpunkte. Immer wieder waren die Sängerinnen und Sänger durch Laternenpfähle oder andere "Hindernisse" verdeckt. Vor allem während des Familienessens im Wintergarten sorgten die Fensterrahmen und sogar die großen Kerzen auf dem Tisch für "zerschnittene" Bilder. Gab es denn im Vorfeld keine Kameraprobe? Ich habe schon viele Übertragungen aus Opernhäusern gesehen - die Übertragungen aus der Met in New York waren immer fantastisch - , aber was hier geboten wurde, war lieblos. Schade!