Alfred Döblin brauchte 2000 Seiten, um die Geschichte der deutschen Revolution von 1918 zu Papier zu bringen. Am Weimarer Nationaltheater inszenierte André Bücker das "Erzählwerk" in viereinhalb Stunden bis Mitternacht, was nicht überzeugte.
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Der Teufel hat den Schnaps gemacht, und offenbar auch die deutsche Revolution von 1918. Mit beidem ist er hoch zufrieden und verabschiedet sich am Weimarer DNT entsprechend gut gelaunt vom Publikum: Die Engel fangen an zu saufen, und die Revolution, die versandet und bringt die Nazis an die Macht. Jedenfalls stellt Regisseur André Bücker am Ende dieses viereinhalbstündigen Abends, der erst gegen Mitternacht endete, im Weimarer Nationaltheater einen SA-Mann auf die Bühne, samt Ehefrau und Kinderwagen. So endet diese Geschichte, so vorhersehbar scheitert die Weimarer Republik, was Geschichtswissenschaftler noch am Nachmittag bei einer Podiumsdiskussion im selben Haus entschieden bestritten hatten.
Markus Lerch (Karl Liebknecht, vorn) und Johanna Geißler (Rosa Luxemburg, oben) | Bildquelle: Candy Welz
Ihrer Meinung nach hatte Weimar sehr wohl eine Erfolgs-Chance, war der Weg in den Nationalsozialismus keineswegs vorgezeichnet, ganz im Gegenteil. Aber gut, André Bücker, im Hauptberuf Intendant am Theater Augsburg, inszenierte ja keine Historiker-Debatte, sondern Alfred Döblins wenig gelesenes und hierzulande fast unbekanntes vierteiliges Erzählwerk "November 1918".
Ein Labyrinth auf rund 2.000 Seiten, das zweieinhalb Monate beschreibt, die Zeit vom 9. November 1918 bis zum 15. Januar 1919, also von der Ausrufung der Republik bis zur Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. André Bücker und die Weimarer Dramaturgin Beate Seidel machten daraus einen spielbaren Theatertext, der amerikanisch-schweizerische Komponist Stefan Lano wählte dazu zeittypische Musik aus, schrieb teilweise auch neue.
So erklingen die erste Strophe des Deutschlandlieds, die Internationale, "Brüder zur Sonne, zur Freiheit", aber auch die rechtsradikale Hymne "Freikorps voran, die Grenze brennt". Lano ließ sich vom "Hohenfriedberger Marsch" inspirieren, vom "Liebestod" aus Wagners "Tristan und Isolde", Johann Sebastian Bachs Kantate "Es ist der alte Bund" und Felix Mendelssohn Bartholdys "Verleih uns Frieden". Alle wichtigen damaligen Akteure treten auf: Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann, Paul von Hindenburg, General Wilhelm Groener und Gustav Noske, der sowjetische Agent Kurt Radek, natürlich Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, aber gerade jüngere Zuschauer standen damit vor Rätseln, ist ihnen, und nicht nur ihnen, die Revolutionsgeschichte doch kaum oder gar nicht bekannt.
Satan (Sebastian Kowski) im Disput mit Friedrich Becker (Max Landgrebe) | Bildquelle: Candy Welz Weil Alfred Döblins Text selbstverständlich mehr sein will als ein Kalenderblatt, haben Engel und Gott ebenso ihre Auftritte wie der Teufel, was damit zu tun hat, dass Karl Liebknecht gern im epischen Gedicht "Verlorenes Paradies" von John Milton gelesen haben soll, wo Satan ja die Hauptrolle spielt und mit seiner Protesthaltung heimlicher Sympathieträger ist. Ein Wust an deutscher, ja europäischer Geistesgeschichte also, in dem sich Döblins Hauptfiguren, der Lehrer Friedrich Becker und sein Freund Maus hoffnungslos verlaufen. Dabei wollen sie doch nur glücklich und zufrieden sein. Doch das ist in Revolutionszeiten schwierig bis unmöglich.
Leider gelingt es André Bücker nicht, diesen Riesenapparat szenisch in den Griff zu bekommen. Vor allem im ersten Teil wird seitenlang fade deklamiert statt spannend gespielt. Da sind Sprechautomaten unterwegs, die in ihrer satirischen Überzeichnung wohl an Karikaturen von Otto Dix erinnerten sollten, aber letztlich nur Langweile verbreiteten. Auch Ausstatter Jan Steigert ist nicht viel eingefallen: Er hätte sich wesentlich mehr an den expressionistischen Kulissen der Stummfilmzeit orientieren können. So blieb es bei einer austauschbaren Häuserfassade auf der Drehbühne mit der Aufschrift "Butter" und den nur leicht ironisierten Kostümen von Suse Tobisch. Die Textfassung ist bisweilen von nervtötender Einfalt, etwa, weil sich alle Figuren ständig und durchgehend mit ihren Namen ansprechen, als ob sie endlos Visitenkarten austauschen. Statt sich auf die Dreiecksgeschichte im Zentrum von Döblins Erzählwerk zu konzentrieren, haben zahlreiche Promis überflüssige Kurzauftritte, darunter Kaiser Wilhelm II.
Markus Lerch (Karl Liebknecht) und Johanna Geißler (Rosa Luxemburg) | Bildquelle: Candy Welz Rosa Luxemburg liegt wie der französische Revolutionsheld Marat in der Badewanne, Karl Liebknecht steht mit Sicherheitsgurt am Balkon: Lauter witzig oder anspielungsreich gemeinte Querverweise, die den Charakteren ihren Ernst, ihre Tiefe nahmen. Schade um diese eigentlich lobenswerte Riesen-Anstrengung zum 100. Jubiläum der "Weimarer Republik" mit Staatskapelle und Chor. Unter den Schauspielern überzeugten nur Sebastian Kowski und Sebastian Nakajew als teuflisches Paar, sowie Johanna Geißler als Rosa Luxemburg. Alle anderen mühten sich eifrig, aber uninspiriert durch ihre Textmassen. Mit Revolutionen haben die Deutschen eben ihre Schwierigkeiten.
"November 1918" am Deutschen Nationaltheater Weimar
Regie: André Bücker
Musikalische Leitung: Stefan Lano
Bühne: Jan Steigert
Kostüme: Suse Tobisch
u.a. mit Max Landgrebe (Friedrich Becker), Johanna Geißler (Rosa Luxemburg), Markus Lerch (Karl Liebknecht), Sebastian Kowski (Teufel) und Heike Portein (Engel)
Staatskapelle Weimer
Opernchor des Deutschen Nationaltheaters
Premiere: 3. November 2018
Sendung: "Allegro" am 5. November 2018 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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