BR-KLASSIK

Inhalt

Jazzlabelgründer Matthias Winckelmann ist tot Leidenschaftlicher Entdecker

Mit geliehenem Geld seines Vaters gründete er einst in München das international bekannte Jazz-Label "enja". Jetzt ist der Musikproduzent Matthias Winckelmann im Alter von 81 Jahren gestorben.

Matthias Winckelmann, Labelchef von "enja" | Bildquelle: Ssirus W. Pakzad

Bildquelle: Ssirus W. Pakzad

"Es gibt eigentlich nichts Wichtigeres, als ein Jazz-Label zu machen": Das war seine Überzeugung, zumindest was ihn selbst betraf, geäußert in einem von vielen Interviews, die er BR-KLASSIK gab. Wenn er anfing, über Musik zu sprechen, die er vor kurzem produziert oder einfach nur für sich entdeckt hatte, fing seine leicht angeraute Bass-Stimme genüsslich zu federn an und sein Gesicht überzog ein ungemein genießerisches Lächeln. So kannte man den Münchner Plattenproduzenten Matthias Winckelmann. Jetzt ist sein Lächeln erloschen, seine Stimme verstummt: Winckelmann ist am Wochenende in einer Münchner Klinik nach einer Operation gestorben. Er war 81 Jahre alt.

CHET BAKER, ABDULLAH IBRAHIM UND ANDERE WELTSTARS DES JAZZ

Die Liste der Musiker, von denen sein Label "enja" Aufnahmen herausgebracht hat, ist beeindruckend: Chet Baker, Dusko Goykovich Abdullah Ibrahim, Abbey Lincoln, John Scofield, Archie Shepp, Bennie Wallace, Yosuke Yamashita - und viele andere mehr haben bei diesem unabhängigen Münchner Label Alben veröffentlicht. Einige gehören immer noch zu den Künstlern, die dem Label verbunden sind: etwa der große südafrikanische Pianist und Komponist Abdullah Ibrahim, der aus dem ehemaligen Jugoslawien stammende Weltklasse-Trompeter Dusko Goykovich. Dazu so markante Musiker wie der libanesische Oud-Virtuose und Komponist Rabih Abou-Khalil. In den Glanzzeiten des Labels, also vor allem den 1970er, 1980er und 1990er Jahren, gehörten "enja"-Produktionen zu denen, die man nicht versäumen durfte, wenn man sich für möglichst unverfälschten Jazz interessierte. In Zentren wie New York und Tokio und an anderen jazzbeseelten Orten entstanden viele der "enja"-Aufnahmen.

JUNGE MUSIKER:INNEN IM AKTUELLEN KATALOG DES LABELS

Noch in jüngster Zeit konnte "enja" immer wieder mit herausragender Musik aufwarten, nicht zuletzt von jungen Künstlerinnen und Künstlern - wie etwa der deutschen Klarinettistin und Komponistin Rebecca Trescher, Trägerin des Deutschen Jazzpreises 2022, und der aufregenden jungen Münchner Band Ark Noir, oder auch, beständig mit vier Alben seit 2014, der Schlagzeugerin und ersten deutsche Instrumentalprofessorin für Jazz, Eva Klesse.

UNERMÜDLICHER MUSIK-GENUSSMENSCH

Matthias Winckelmann: Gründer des Jazz-Labels "enja" | Bildquelle: Roland Spiegel Matthias Winckelmann vor dem "enja"-Büro | Bildquelle: Roland Spiegel Auch noch vor gut einem Jahr, im Frühjahr 2021, kurz vor seinem 80. Geburtstag, kam Matthias Winckelmann beim Interview ziemlich schnell ins Schwelgen. Der stattliche Mann mit dem Kinnbart und der Leidenschaft fürs Erzählen saß an einem inzwischen sehr spartanischen Schreibtisch in einer Büro-Ecke im damaligen Domizil des Labels, einem vor allem als Lagerraum dienenden Hinterhof-Flachbau unweit der Donnersberger Brücke in München, und sprach von jungen Musikern, deren Aufnahmen er unlängst gehört habe und mit denen er unbedingt Projekte realisieren wolle. "Da gibt es so einen jungen Typen aus ...", begann er einen seiner typischen Sätze, die stets ausführliche Schilderungen nach sich zogen: Schilderungen eines rückhaltlos Entdeckungsfreudigen, eines Musik-Genussmenschen, der besonders die unangepassten Töne liebte.

"MACH, WAS DU WILLST, ABER MACH ES AUCH GUT"

Die schönste seiner Schilderungen ist die vom Anfangs seines Labels. Matthias Winckelmann hatte Volkswirtschaft und Soziologie studiert, sich ursprünglich für einen Beruf in der Entwicklungshilfe interessiert - doch dann kam alles anders. Er hörte Aufnahmen des Saxophonisten Charlie Parker und wusste dann schnell, dass er mit solcher Musik "für den Rest meines Lebens was zu tun haben" wollte. Als sein Vater, ein "großer Businessmann in Frankfurt", ihn fragte, was die Pläne des Sohnes nach dem Examen seien, sagte Matthias Winckelmann, er würde am liebsten ein Jazzlabel gründen. Wenn es etwas ist, wovon Du wirklich begeistert bist, dann mach es, soll sein Vater darauf gesagt haben; aber auch: "Und mach es richtig gut!" Dann machte sich Matthias Winckelmann daran, bei seiner Bank einen Kredit aufzunehmen - doch auf seine Ankündigung, dass er sensationelle Schallplatten mit einer unwiderstehlichen Musik produzieren wolle, wurde ihm dort gesagt: Klingt großartig, aber machen Sie das lieber mit anderen Partnern. Also lieh er sich von seinem Vater 20.000 Mark für den Start: "Und nach anderthalb Jahren konnte ich ihm das Geld zurückzahlen, da war ich ganz stolz".

GRÜNDUNG DES LABELS "ENJA": ERSTE PLATTE MIT PIANIST MAL WALDRON

Matthias Winckelmann gründete das Label nicht alleine: Sein Compagnon war der sieben Jahre ältere Mode-Designer und Jazzfan Horst Weber (1934 bis 2012), der besonders gute Kontakte nach Japan hatte - einem Land mit extrem vielen Jazz-Liebhabern. "Enja", der Name des Labels, stand für European New Jazz. Das Motto wurde aber nie sklavisch ernst genommen, denn bereits die erste Produktion des Labels präsentierte die Band eines amerikanischen Musikers, der damals in München lebte: Das war der Pianist Mal Waldron, einst Begleiter der Sängerin Billie Holiday. Am 29. Juni 1971 entstand eine Aufnahme mit ihm, Bassist Jimmy Woode und Schlagzeuger Pierre Favre im Münchner Jazzclub "Domicile". "Black Glory" hieß das damalige Album. Damit wurde Mal Waldron zum zweiten Mal der erste Künstler eines in München gegründeten Jazzlabels. Zwei Jahre zuvor hatte der Produzent Manfred Eicher das Label "ECM" aus der Taufe gehoben, dessen erstes Album "Free At Last" von Mal Waldron war. Zu den frühen Künstlern des Labels enja gehörten auch der ungarische Gitarrist Attila Zoller, der deutsche Posaunist Albert Mangelsdorff und der japanische Trompeter Terumasa Hino.

CHET BAKERS "LAST GREAT CONCERT"

Bald kamen auch Aufnahmen mit Dusko Goykovich und Abdullah Ibrahim hinzu - und 1988 entstand für "enja" auch die letzte bedeutende Live-Aufnahme des Trompeters Chet Baker: "The Last Great Concert", aufgenommen am 28. April 1988, 15 Tage bevor der weltberühmte Musiker aus einem Hotelzimmerfenster in Amsterdam stürzte und im Alter von 58 Jahren starb.
Die beiden "enja"-Gründer Matthias Winckelmann und Horst Weber arbeiteten bis 1986 zusammen, danach teilten sie wegen unterschiedlicher Vorstellungen den Katalog ihres Labels, das fortan in zwei getrennten Schienen unter demselben Namen existierte.

MIT DEM EIGENEN PKW VON PLATTENLADEN ZU PLATTENLADEN

Matthias Winckelmann lieferte in den Anfangsjahren LPs selber aus. Er fuhr mit seinem VW von Plattenladen zu Plattenladen in ganz Deutschland. "Das war alles sehr bescheiden in den frühen Jahren. Ich war mein eigener Vertreter - bis wir uns einen regulären Vertrieb leisten konnten."

"DIE BESTE MUSIK DER WELT"

Matthias Winckelmann: Gründer des Jazz-Labels "enja" | Bildquelle: Roland Spiegel Labelgründer Matthias Winckelmann | Bildquelle: Roland Spiegel Wer Winckelmann je im Gespräch erlebt hat, kann sich vorstellen, mit wieviel Schwung und Begeisterung er damals die Musik, die er für die beste der Welt hielt, an die Leute brachte. Die Begeisterung und die Fähigkeit zum verbalen Entfachen von Feuer hatte er bis in seine letzten Jahre hinein. Über das, was ihn einst am Jazz so sehr bewegte, dass er dieser Musik sogleich sein Leben widmen wollte, sagte Matthias Winckelmann: "Ich hab‘ auch viel klassische Musik gehört. Aber das war eine völlig andere Welt. Da war natürlich der Rhythmus ganz anders, aber auch das Harmonische. Das Impulsive, das On-the-Spot beim Jazz, das fand ich faszinierend. Dass du plötzlich wusstest: Was ist das für ein Mensch, der das gerade spielt. Wie ein großer Schauspieler - da denkst Du plötzlich über den nach."

MUSIK, DIE MENSCHEN FÜR MENSCHEN INTERESSIEREN KANN

Jazz also war für Matthias Winckelmann auch Musik, die Menschen für Menschen interessieren kann. Nicht zuletzt dafür - und für viele spannende Aufnahmen kraftvoller Musik - steht das Lebenswerk des Produzenten Matthias Winckelmann: eines leidenschaftlichen Entdeckers mit dem besonderen Gefühl für ungeglättete und lustvolle Töne.

Sendungstipp

Am Montag, den 20. Juni, erinnert die "Jazztime" an den Münchner Produzenten Matthias Winckelmann. Ab 23:05 Uhr auf BR-KLASSIK.

Kommentare (0)

Kommentieren ist nicht mehr möglich.
Zu diesem Inhalt gibt es noch keine Kommentare.

    AV-Player