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ZUM 60. GEBURTSTAG DES JAZZPIANISTEN MICHEL PETRUCCIANI Ein kleiner grosser Weltstar

Der Pianist Michel Petrucciani war nur einen Meter groß, er litt an der Glasknochenkrankheit und musste in seinem Leben etliche Knochenbrüche verkraften. An seinem Instrument spielte er kraftvoll und eloquent wie nur die allerwenigsten. Er war ein weltweit gefeierter Star des Jazz. Am 28. Dezember 2022 wäre er sechzig Jahre alt geworden. Und so behält ihn die Welt in Erinnerung.

Michel Petrucciani | Bildquelle: Alexander Hellbrügge/Thomas Radigk

Bildquelle: Alexander Hellbrügge/Thomas Radigk

Grad Michel Petrucciani | Bildquelle: Roland Spiegel Bildquelle: Roland Spiegel Wer auf dem berühmten Pariser Friedhof "Père Lachaise" nach dem Grab Frédéric Chopins sucht, kann unvermittelt wenige Schritte weiter auch auf dasjenige des französischen Jazzpianisten Michel Petrucciani stoßen. An einer schattigen Stelle in der elften "Division" des riesigen Friedhofs, umgeben von einigen auch sehr verwitterten alten Grabstellen liegt eine massive weiße, abgestufte Steinplatte, dahinter ein scharfkantig geschliffener klarer Grabstein mit der Inschrift "Michel PETRUCCIANI – Compositeur – Pianiste de Jazz". Und darunter die Lebensdaten: 28. Dezember 1962 bis 6. Januar 1999.

Radio-Tipp

Ulrich Habersetzer erinnert an den Jazzpianisten Michel Petrucciani auch in den Classic Sounds in Jazz am 28. Dezember um 19:05 Uhr auf BR-KLASSIK.

WITZE AM LAUFENDEN BAND BEIM INTERVIEW

Michel Petrucciani lebte kurz und sehr intensiv: Er war ein Musiker und Mensch von einer mitreißenden Vitalität. Wer ihn nicht nur auf Bühnen sah und hörte, sondern auch das Glück hatte, ein paar Stunden im Zwiegespräch mit ihm zu verbringen, erlebte ein Energiebündel. Wenige Wochen vor seinem Tod in einem großen Zimmer des Hotels Bayerischer Hof in München empfing er den Autor dieses Textes zu einem Interview. Entspannt, freundlich und ständig von Lachsalven geschüttelt, gab Michel Petrucciani da Antworten auf viele Fragen zu seinem Leben und seiner Musik und erzählte alle paar Minuten mit sich juchzend überschlagender Stimme Witze, auch solche, die sich in einem geschriebenen Text nun wirklich nicht gut ausnehmen.

DAS ANSTECKENDE LACHEN EINES SENSIBLEN BERSERKERS

Er zeigte sich da ganz so, wie der 2016 verstorbene Publizist und Fernsehmoderator Roger Willemsen schilderte, der gut mit ihm befreundet war und ihn in seiner TV-Sendung "Willemsens Woche" jahrelang als musikalischen Begleiter präsentiert hatte. Willemsen erinnerte sich in einer besonders innigen Textpassage so an Petrucciani:

Seine Vitalität war einschüchternd, wenn er lachte, platzte ihm fast der Kopf, er war ein Berserker und zugleich - auch in Dingen der Freundschaft - der zarteste Impressionist.
(Roger Willemsen)

Schöner kann man es nicht sagen. Beim Gespräch in München barst Petrucciani auch schier vor Tatendrang. Wenige Monate zuvor war die Sendung "Willemsens Woche" eingestellt worden – was Petrucciani schade fand, aber er sagte, er habe genug "andere Dinge zu tun". Allein im Jahr 1998 gab er 140 Konzerte. Besonders liebte er Solo-Konzerte und kostete sie in Stücken voller funkelnder Virtuosität aus. Doch zu vielen dieser "anderen Dinge" kam er nicht mehr. Nur wenige Wochen nach dem Gespräch in München starb Petrucciani in New York nach einer schweren Lungenentzündung.

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Helge Schneider & Michel Petrucciani bei Willemsen

MIT DEM HAMMER GEGEN EIN SPIELZEUG-KLAVIER

Michel Petrucciani war Sohn einer Französin und eines aus einer neapolitanischen Familie stammenden, französischen Jazzgitarristen – Tony Petrucciani, mit dem der Sohn auch eine innige Duo-CD machte. Mit vier hatte Michel seinen ersten Klavierunterricht, mit 13 gab er sein erstes Konzert, mit 20 zog er nach Kalifornien, Jahre später nach New York. Seine Anfänge wurden durch ein Initial-Erlebnis ausgelöst: Er sah ein Konzert des Jazzpianisten Duke Ellington im Fernsehen. Daraufhin wollte er ein Klavier haben. Er bekam ein Spielzeug-Klavier und zertrümmerte es noch am selben Tag. Denn er wollte ein echtes Klavier. Auf dem faszinierte ihn sehr schnell der Jazz. Und er erreichte auf dem Instrument eine überragende Jazz-Meisterschaft.

Meine Mutter schickte mich aufs Konservatorium und erlaubte mir nicht, Jazz zu spielen – ich tat’s trotzdem
(Michel Petrucciani)

BALANCE-AKT AUF DEM SCHEMEL

Jazz-Pianist Michel Petrucciani. | Bildquelle: BR/Alexander Hellbrügge/Thomas Radigk Bildquelle: BR/Alexander Hellbrügge/Thomas Radigk Wer ihn je spielen sah, wird es so schnell nicht wieder vergessen. Da saß dieser kleinwüchsige Mann an der Tastatur eines Konzertflügels, auf einem Klavierschemel, der viel zu hoch für ihn erschien, seine Füße baumelten einen halben Meter über dem Boden. Wenn er hohe Töne erreichen wollte, musste er seinen Körper mit einer leichten Drehbewegung weit nach rechts beugen und dabei den Rumpf wie in einem Balance-Akt nach oben hieven, um überhaupt in Reichweite der Tasten zu kommen. Näherte er sich dann wieder den mittleren und tiefen Bereichen, ließ er den Körper oft plötzlich wieder auf den Hocker plumpsen, ohne aber im Spiel auf den Tasten dabei auch nur die geringste holprige Stelle zu erzeugen. In seiner Musik hörte man nicht die geringste Anstrengung – dabei absolvierte er virtuose Passagen mit fast akrobatischen, demonstrativ lang angehaltenen Tremoli und irrwitzigen Läufen, und das mit äußerst kraftvollem Anschlag. Er konnte aber auch ganz zart klingen – er zeigte das in ungemein gefühlvoll interpretierten lyrischen Stücken, die stets wichtige Augenblicke seiner Programme waren.

"JETZT HALT‘ ICH DIE KLAPPE UND SPIEL'"

Ein großer Moment für das Publikum in Bayern war Petruccianis Solo-Konzert am 28. März 1993 bei der Internationalen Jazzwoche Burghausen in der dortigen Wackerhalle. Vor jubelndem Publikum begann er dort sein 80-minütiges Gastspiel mit dem lyrischen Klassiker "My Funny Valentine" (das er allerdings im Laufe des Stücks zu einer virtuosen Bravour-Nummer umschlagen ließ) und endete dann sieben Stücke später mit Thelonious Monks großer moderner Jazz-Ballade "Round About Midnight", in die er genüsslich die Melodie des Stücks "The Windmills of Your Mind" seines französischen Landsmanns Michel Legrand einflocht. Dazwischen gab es zum Beispiel Duke Ellingtons "Take The A-Train" als rasantes Superschnellzug-Intermezzo – und gleich darauf eine andere Ellington-Nummer, "In A Sentimental Mood" als impressionistische Studie mit einer ungemein konturenscharf herausleuchtenden Melodie-Linie. Vor den Ellington-Stücken hatte er dem Publikum in Burghausen gesagt: "Ich habe mich entschieden, dieses Jahr Musik von Duke Ellington zu spielen, weil ich davon überzeugt bin, dass er einer der größten Komponisten nach Mozart ist. Wirklich! Ich werde ganz bescheiden versuchen, ein bisschen von Dukes Musik zu spielen. Und danach, wenn Sie noch immer geduldig mit mir sind, werde ich Ihnen auch ein paar meiner eigenen Kompositionen präsentieren." Kurze Stille, dann eine typische Petrucciani-Pointe, nach den sehr respektvoll-gemessenen Worten über Ellington ganz schnell wie beiseite gesprochen: "Und jetzt halt‘ ich die Klappe und spiel'."

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Michel Petrucciani - Jazzwoche Burghausen 1993

PRALLES LEBEN IN SEHR BEGRENZTER ZEIT

Er war ein charmanter Virtuose auch im Umgang mit dem Publikum. Und schien jeden Moment zu genießen – auch wenn es Momente gab, etwa auf dem oft mühseligen Weg von der Garderobe auf die Bühne, in denen ihm ein beherztes "I hate it!" entfuhr, wie der Musikpublizist Bert Noglik einmal sehr bewegend über eine Begegnung mit Petrucciani geschildert hat. Das Filmporträt "Leben gegen die Zeit" aus dem Jahr 2011 von Michael Radford schildert ihn auch als unersättlichen Genussmenschen, als Frauenheld, der immer wieder neue Eroberungen brauchte, als Lebemann, der sich modisch zu stilisieren wusste, etwa mit Sonnenbrillen, wie sie die Stil-Ikone Miles Davis in ihren exzentrischsten Zeiten trug – und als Rastlosen, der möglichst viel Leben in seiner sehr begrenzten Zeit unterbringen wollte.

PETRUCCIANI, BOB DYLAN UND JOHANNES PAUL II

Jazz-Pianist Michel Petrucciani. | Bildquelle: BR/Alexander Hellbrügge/Thomas Radigk Bildquelle: BR/Alexander Hellbrügge/Thomas Radigk Einen sehr besonderen Moment in seinem Leben schilderte Petrucciani bei der Begegnung in München im Jahr 1998. Ein Erlebnis vom September des Vorjahres, also 1997, in Bologna, als Songwriter Bob Dylan in Gegenwart von Papst Johannes Paul II ein Konzert gab. Petrucciani schilderte diesen Tag so: "Lucio Dalla, der dort ebenfalls auftrat, hatte mich überredet, ein Duo mit ihm zu spielen. Der Papst saß auch auf der Bühne, auf einem Podest, und versuchte, über die Länge des Konzerts wachzubleiben. Auf der anderen Seite, etwa sechzig Meter von ihm entfernt, saß ich hinter dem Flügel. Und dann war da dieser Moment, in dem der Papst mich unbedingt kennenlernen wollte. Ich nahm also meine Krücken und schleppte mich Meter für Meter über die Breite dieser Riesenbühne. Das dauerte! Den Leuten vom Fernsehen, die live übertrugen, wurde ganz schlecht – die kostbare Sendezeit! Sowas geht ins Geld. Als ich schließlich – Stunden später! – vor dem Podest des Papstes ankam, hatte ich Mitleid mit ihnen und stieg nicht auch noch die Stufen hinauf, sondern verbeugte mich da unten. Und was tat der Papst? Er stand auf und verbeugte sich auch! Die ganze Welt sprach davon." Soweit Petrucciani über die Respektsbezeigung durch einen prominenten Zuhörer.

EINDRÜCKE, DIE MAN NICHT VERGISST

Die Zeit, die Petrucciani und seinem Publikum gegönnt war, war viel zu kurz, aber sie war ungemein intensiv. Voller Eindrücke, die man nicht vergisst. Die Zeit von einem, der sich gegen Widerstände besonders durchzusetzen wusste – und Musik hinterließ, die auch fast ein Vierteljahrhundert nach Petruccianis Tod noch eine mitreißende Kraft hat.

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Michel Petrucciani Trio - Philharmonie im Gasteig (München, 1997) | Bildquelle: Jazz|ᴳᴿᴱᴱᴺ (via YouTube)

Michel Petrucciani Trio - Philharmonie im Gasteig (München, 1997)

Kommentare (1)

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Dienstag, 27.Dezember, 23:58 Uhr

Beate Schwärzler

Michel Petrucciani und Roger Willemsen im ZDF

...in "Willemsens Woche" waren in Hamburg mit dem "Bücherjournal" mit Dieter Zilligen im NDR der einzige, aber unbedingte Grund, den SchwarzWeißFernseher einzuschalten.
Sternstunden des Fernsehens, seltene Qualität und geistiger Hochgenuß alle beide.
Und auf dem berühmten Pariser Friedhof "Père Lachaise" wurde ich bei meinen Besuchen dort auf den Wegen zwischen den Gräbern von anderen Besuchern immer nach dem Grab von Jim Morrison gefragt.
Ich war sehr traurig, als "Willemsens Woche" eingestellt wurde. Mehr noch, als ich erfuhr, in Gefangenschaft, daß Roger Willemsen gestorben ist. 5 Euro in Briefmarken habe ich nach Hamburg geschickt für ein blaues Blümchen auf sein Grab.
Damals, Anfang Februar 2016, fühlte ich mich noch verbunden...

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