Frisch desinfizierte VR-Brillen lagen für jeden Zuschauer bereit: Das Staatstheater Augsburg entführte das Publikum ins digitale Elysium - in dem die Kunst allerdings nicht mehr gebraucht wird. Eine wagemutige Inszenierung nur für Schwindelfreie!
Bildquelle: Jan Pieter Fuhr
Ehrlich, 25 Minuten Unsterblichkeit reichen - alles weitere ist die Hölle! Insofern brachte das Staatstheater Augsburg den Orpheus-Mythos wirklich auf den Punkt. Der antike Sänger durfte sich ja auf gar keinen Fall umdrehen, als er seine verstorbene Eurydike aus der Unterwelt holen, also vor dem Tod bewahren wollte. Bekanntlich scheiterte er daran, wie jeder Sterbliche. Sich nicht anzusehen ist eben unmenschlich, das wussten die hinterhältigen Götter natürlich ganz genau. Und als ob die Augsburger Zuschauer das noch mal eigens bestätigen wollten, blickten sie diesmal besonders oft nach hinten, jedenfalls in den 25 Minuten, in denen sie eine VR-Brille auf der Nase hatten.
Bildquelle: Heimspiel GmbH und Christian Schläffer Mit diesen unbequemen Dingern ist es bekanntlich möglich, in jeder Himmelsrichtung eine virtuelle Welt zu entdecken, vorausgesetzt, es stehen fünf bis sechs leistungsstarke Computer zur Verfügung, die fünf Monate lang Tag und Nacht rechnen, um dann eine knappe halbe Stunde bizarrer Kamerafahrten möglich zu machen - in diesem Fall bis an den Eingang der Hölle, der nach den Reklameschildern und den Drachen zu urteilen, die dort ihr Maul aufsperren, irgendwo in Asien sein muss, und ins Paradies, das sich natürlich in Rom befindet, weil die berühmte Kuppel des Pantheons und jede Menge antike Statuen zu sehen waren.
Und wem das alles zuviel Jenseits war, für den gab es am Ende ein paar Beispiele für perfekte Wohnwelten: In jedem besseren Möbelhaus können die Kunden ja inzwischen am Computerbildschirm ausprobieren, wie sich diese oder jene Sitzlandschaft in den Grundriss fügt. Das ist dann schon der erste Schritt in die immerwährende, digitale Existenz, von der mancher ja angeblich träumt.
Bildquelle: Jan Pieter Fuhr Klar, in "Orpheus und Eurydike" von Christoph Willibald Gluck von 1762 geht es um nichts weniger als die alte Frage, ob der Mensch die Götter herausfordern sollte - oder ob deren ewiges Leben für uns Erdenbewohner nicht doch schlimmer als der Tod wäre. Intendant und Regisseur André Bücker gibt darauf eine klare Antwort: Je bunter die vorgegaukelten virtuellen Paradiese, desto grauenhafter sind sie. Und das liegt nicht daran, dass die VR-Brillen irgendwann kneifen und Übelkeit verursachen.
Bücker und seine Ausstatter Jan Steigert und Lili Wanner (Kostüme) verlegen die Handlung in ein Museum. An den Wänden lauter Caravaggios, unter den Besuchern so prominente Künstler wie der wilde Jonathan Meese, der die alten Kunstwerke mit Säure attackiert, und die gravitätische Performance-Königin Marina Abramović, die für ihre Fans Hof hält und sich tatsächlich gerade an der Bayerischen Staatsoper in München mit keiner Geringeren als der Operndiva Maria Callas verglichen hat.
Bildquelle: Heimspiel GmbH und Christian Schläffer Außerdem tummeln sich zwischen den aufreizenden Gemälden jede Menge schräge Gestalten, ein Jesus-Doppelgänger, ein Cowboy, Selfie-Fanatiker, kurz und gut: Die ganze schrille Mischung aus Ignoranten und Adoranten, die weltweit die Kunsttempel beleben. Mittendrin Orpheus, der als Witwer allen sein Leid klagt, und seine Eurydike als leblose Installation hinter einer Absperrung in der Ecke, wie eine von diesen lebensechten Figuren aus Glasfaser und Polyesterharz des amerikanischen Künstlers Duane Hanson. In diesem Fall sorgt Amor dafür, dass Orpheus seine Eurydike tatsächlich von den Toten auferstehen lässt - aber um welchen Preis?
Die Kunst wird nach der Überwindung des Todes von den Wänden gehängt und teilweise zerstört. Obdachlose hausen in den offenbar verlassenen Räumen, eine Wüstenei mit Wäscheleine und vielen Schlafsäcken. Nur rein virtuell, da ist alles in bester Ordnung, da sitzen Orpheus und Eurydike roboterhaft auf ihrem nagelneuen Sofa und winken sich bis ans Ende aller Zeiten mechanisch zu. In raschen neunzig Minuten gelingt André Bücker eine höchst zeitgemäße Interpretation des antiken Mythos - ob der Riesenaufwand mit VR-Brillen allerdings nötig gewesen wäre, sei dahin gestellt.
Musikalisch ruckelte es anfangs etwas, weil Dirigent Wolfgang Katschner und sein Orchester in einem benachbarten Saal spielten. Da war die Koordination mit dem Chor zunächst nicht ganz einfach. Die russische Mezzosopranistin Natalya Boeva als Orpheus und die koreanische Sopranistin Jihyun Cecilia Lee als Eurydike waren jedoch stimmlich ein ganz ausgezeichnetes Duo. Da konnte die ukrainische Sopranistin Olena Sloia als Amor nicht ganz mithalten, dafür war sie schauspielerisch deutlich beweglicher.
Insgesamt ein ziemlich anstrengender Abend, auch deshalb, weil das Gewusel auf der Bühne und der Einsatz der VR-Brillen optisch herausfordernd war. Gleichwohl eine so anregende wie ironische Deutung des Orpheus-Mythos - mit einem Gedankenexperiment: Was wäre wohl, wenn der geniale Caravaggio auch wieder auferstanden wäre und seit 400 Jahren immer weiter malen würde? Wetten, dass er eine andere Vorstellung von Glückseligkeit hatte?
Kommentare (0)