Orpheus bezaubert mit seinem Gesang nicht nur Menschen, sondern auch Tiere, Bäume und Felsen. Christoph Willibald Glucks Opern-Version vom griechischen Mythos feierte 1762 seine Uraufführung in Wien. Am 14. Februar 2021 kam die Oper in einer neuen Inszenierung am Opernhaus in Zürich heraus – als Online-Premiere ohne Zuschauer. Regie führte Christoph Marthaler. Eine szenisch fragwürdige, aber musikalisch gelungene Produktion, meint BR-KLASSIK-Autor Robert Jungwirth.
Bildquelle: Monika Rittershaus
Wo sind wir hier, fragt der Schauspieler Graham Valentine in einem der Oper vorangestellten, neu hinzugeschriebenen Prolog. So wie er rätseln auch die Zuschauer bis zum Ende der Oper über den Ort, den sich Christoph Marthaler und seine kongeniale Bühnenbildnerin Anna Viebrock für Glucks "Orphée et Euridice" ausgedacht haben. In der Mitte scheint es eine Art Aussegnungshalle mit Krematorium zu sein. Links und rechts davon grenzt eine Café-Bar an, mit den üblichen Marthaler-Verdächtigen: herumschlurfende und von plötzlichen Zuckungen befallene Menschen. In diesem Fall sind es wohl letzte Zuckungen, denn manchmal sacken diese Menschen ganz plötzlich in sich zusammen.
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Zwischen tot und lebendig gibt es kaum einen Unterschied in dieser Marthaler-Unterwelt, die so aussieht wie sonst seine Oberwelten auch. Es sind immer Wartesäle des Lebens, in denen Marthalers Figuren angesiedelt sind. Sie warten auf bessere Zeiten oder einfach auf das Ende des Wartens.
Für Glucks "Orphée" haben Marthaler und Viebrock eben auch die Unterwelt, in die Euridice hinabsteigen musste und in die Orphée ihr folgt, in eine solche Szenerie verlegt. Da sitzen die Toten wie versteinert auf roten Kunstlederstühlen an Bartischen vor ihren Getränken, im Hintergrund flimmert ein Fernseher ohne Empfang. Wir lernen daraus: Auch in der Unterwelt ist es öde, traurig und langweilig. Die verstorbenen Seelen tanzen keine Reigen seliger Geister wie in Glucks Oper eigentlich vorgesehen, sondern sie stieren apathisch vor sich hin. Unselige Geister, in einer Endlosschleife gefangen.
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Freilich hat das alles nur am Rande etwas mit der tragischen Liebesgeschichte von Orpheus und Euridike zu tun, weshalb man sich nach einer Weile mehr und mehr auf die drei Sängerinnen konzentriert. Und die haben um einiges mehr zu bieten in dieser Aufführung. Allen voran Nadezhda Karyazina als Orphée, die mit ihrem tiefen und volltönenden Mezzo anrührend (und wenn es sein muss, auch kraftvoll zornig und wütend) ihr Schicksal besingt und die Götter um Gnade anfleht.
Für einen solchen beeindruckenden Mezzo hat Hector Berlioz seinerzeit die Gluck'sche Oper umarrangiert – für die damals in ganz Europa gefeierte Pauline Viardot. Man kann sich vorstellen, dass diese Pauline Viardot vielleicht ähnlich geklungen haben mag wie Nadezhda Karyazina. Insofern ist die Wahl der Berlioz-Version für die Oper Zürich durchaus eine richtige Entscheidung gewesen.
Auch Chiara Skeraths Euridice begeistert mit ihrem klaren und anrührenden Sopran. Alice Duport-Percier gibt einen glockenhellen Amor. Geleitet wird die Zürcher Aufführung von dem Alte-Musik-Experten Stefano Montanari, der klangvoll und doch schlank musizieren lässt und Glucks klare Melodieführung in ihrer schlichten Schönheit zur Geltung bringt, ohne ihr mit einem Zuviel an Pathos zu Leibe zu rücken. Eine musikalisch also überaus gelungene "Orphée"-Produktion. Szenisch allerdings bleibt sie fragwürdig – und ja, auch etwas langweilig in Marthalers Wartesälen des Jenseits.
Den Videostream der Online-Premiere vom 14. Februar 2021 hat das Opernhaus Zürich auf seiner Homepage veröffentlicht.
Sendung: "Leporello" am 15. Februar 2021 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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