Immer mal wieder wird den Vertretern der historischen Aufführungspraxis vorgeworfen, es gehe ihnen mehr um historische Genauigkeit als um das klangliche Ergebnis. Dass sich beides nicht ausschließt, zeigt seit Jahrzehnten der belgische Dirigent Philippe Herreweghe. Und das nicht nur im Bereich der Alten Musik. Auch klassische oder romantische Werke interpretiert er im Originalklang. Und öffnet damit immer wieder neue Perspektiven auf bekanntes Repertoire. Am 2. Mai wurde Herreweghe 70 Jahre alt.
Bildquelle: © Michiel Hendryckx
Das Porträt zum Nachhören
Hohepriester der Alten Musik - so wird Philippe Herreweghe oft genannt. Selbst sieht sich dagegen eher als Handwerker. Und tatsächlich ist er eine Art Instrumentenbaumeister. Nur dass seine Instrumente nicht die Geige oder das Klavier sind, sondern Chöre und Orchester. Sein erstes Meisterstück gelingt ihm noch als Amateur, mit Anfang zwanzig. Während des Medizin- und Orgelstudiums in seiner Heimatstadt Gent gründet Herreweghe den Chor, der bis heute untrennbar mit seinem Namen verknüpft ist: das Collegium Vocale - anfänglich zusammengesetzt aus einem guten Dutzend Freunden Herreweghes.
Gustav Leonhardt war mein Idol.
Morgens im Hospital als Assistenzarzt, abends am Pult als Chorleiter - dieser Arbeitsrhythmus änderte sich erst, als Nikolaus Harnoncourt und Gustav Leonhardt auf ihn aufmerksam werden - zwei Barockspezialisten und Pioniere der historischen Aufführungspraxis. "Leonhardt war mein Idol", erinnert sich Herreweghe, "als Jugendlicher hatte ich ein Foto von ihm über meinem Bett hängen. Und als ich mit zwanzig Jahren zum ersten Mal die Johannespassion dirigierte, wer stand in der Schlange vor der Kasse? Leonhardt! Das war ein Schock. Aber Leonhardt hat das Konzert gefallen, und er fragte mich hinterher: Wir haben den Plan, alle Bach-Kantaten aufzunehmen. Wärst du bereit mitzuarbeiten?"
Herreweghe kehrt der Medizin den Rücken und widmet sich fortan ganz der Musik. Mehr als zwanzig Jahre dauert es, bis die Gesamtaufnahme der Bach-Kantaten mit dem Collegium Vocale Gent abgeschlossen ist. Und Herreweghe entwickelt sich unter der Anleitung von Leonhardt und Harnoncourt selbst zu einem überragenden Bach-Interpreten: immer auf der Suche nach dem Originalklang. Auf alten Instrumenten und in schlanker Chorbesetzung entstehen zahlreiche Aufnahmen, die vor allem durch Transparenz und präzise Textausdeutung bestechen: Bach gläsern und schwerelos.
Philippe Herreweghe | Bildquelle: © Michiel Hendryckx Allerdings ist Herreweghe kein reiner Bach- oder Barockspezialist. Sein musikalisches Interesse reicht vom Vorbarock bis zu zeitgenössischer Musik. Verpflichtet bleibt er dabei allerdings immer dem authentischen Klangbild - und zwar auf den Instrumenten der jeweiligen Zeit. "Ich bin kein Ajatollah in diesen Dingen, aber ich finde zum Beispiel Bach mit alten Instrumenten einfach schöner", sagt Herreweghe. "Und das gilt für mich mehr und mehr auch für Haydn, eigentlich auch für Beethoven und Mendelssohn, bis hin zu sehr später Musik."
Um diesen unterschiedlichen musikalischen Vorlieben gerecht zu werden, hat Herreweghe über die Jahre verschiedene Klangkörper geformt, darunter auch das Orchestre des Champs-Elysées, mit dem er seit mehr als 25 Jahren in einer Art Crashkurs für angewandte Musikgeschichte das Repertoire des 19. Jahrhunderts auf Originalinstrumenten erkundet. Dabei scheint Herrweghes eigenwillige Schlagtechnik die Musiker dazu zu zwingen, besser aufeinander zu hören. So entstanden zum Beispiel Aufnahmen der Symphonien Schumanns, die, so schlank und beweglich, wie sie klingen, fast wie Kammermusik anmuten.
Sendung: "Allegro", 2. Mai 2017, 6.05 Uhr
Dienstag, 2. Mai 2017
Klassik-Stars, 18.05 bis 19.00 Uhr
Philippe Herreweghe dirigiert Mendelssohn, Gesualdo und Schubert