Den richtigen Zeitpunkt zu finden, ist eine große Kunst. Nicht nur in der Musik. Die Politik tut sich in der Corona-Pandemie immer wieder schwer, den richtigen Einsatz zu erwischen – mit katastrophalen Auswirkungen auf die Kultur.
Bildquelle: BR/Lisa Hinder
Ohne Timing geht gar nichts. Vor allem im Jazz, wo Musikerinnen und Musiker sich die Einsätze selbst aussuchen können. Wenn sie etwa ein improvisiertes Solo spielen, ist Timing wesentlich. Beherrscht es jemand nicht, swingt die Musik nicht mehr. Sie wird hölzern, ungelenk. Der richtige Kick kommt hier aus dem perfekten Timing.
Doch Musik hat einen großen Vorteil gegenüber anderen Bereichen des Lebens. In der Politik ist die Sache mit dem Timing – und dem dafür erforderlichen Fingerspitzengefühl – schon weit schwieriger. Manche haben Glück. Der amtierende Bundeskanzler Olaf Scholz musste vor der Wahl nur abwarten, bis die Stimmungslage für ihn günstig wurde. Musikalisch gesprochen: Ein sehr lang hinausgezögerter Einsatz half ihm entschieden weiter. Währenddessen verpatzten andere ihre Einsätze – wie sein Konkurrent von der Union, der mitten im Katastrophengebiet nach der verheerenden Überschwemmung in scheinbar feixendes Lachen ausbrach und dabei fotografiert wurde: ein Super-GAU des Timings.
In der Corona-Krise ist Timing zu einem großen gesellschaftlichen Thema geworden – auch wenn es niemand mit dem Wort Timing benennt. Welche Maßnahmen wann? Lockdown? Schulen und Kindergärten schließen? 3G oder 2G-Plus? All das ist eine Frage des richtigen Zeitpunkts. Die Bayerische Staatskanzlei schlägt sich im Moment auch mit Timing-Problemen herum. Bei der Gastronomie sorgte sie mit dem effektvollen Einsatz von Lockerungsmaßnahmen für Begeisterung. Doch bei der Kultur hadert und zögert sie. Mögen Studien noch so sehr belegen, dass die Infektionsgefahr in Konzerten, im Theater und in Kinos nicht so hoch ist, dass eine nur 25-prozentige Auslastung nötig wäre – die Staatskanzlei will es nicht hören. Musikalisch ausgedrückt: katastrophales Timing.
Das Solo, das die Staatskanzlei in diesem Fall hinlegt, ist eines, bei dem kein Ton herauskommt. Alle bisherigen Einsätze grandios verpasst. Eine Band würde mit einem Musiker, der sich so etwas leistet, einfach nicht mehr zusammenspielen. Doch beim kulturellen Timing von Söder & Co wird es so sein, dass irgendwann Bands, Orchester, Theater, Kinos überhaupt nichts mehr spielen können. Ihre Existenz ist in größter Gefahr. So etwas kann schlechtes Timing in der Krisenpolitik anrichten – allen schönen Beteuerungen zum Trotz. Genau der falsche Kick für die Kultur.
Sendung: "Allegro" am 21. Januar 2022 ab 06:05 Uhr auf BR-Klassik
Kommentare (3)
Dienstag, 25.Januar, 16:47 Uhr
Beate Schwärzler
Katastrophales Timing, katastrophal für die Kultur
Sehr geehrter Herr Spiegel,
leider nicht gehört am Freitag, gelesen erst heute. Aber die Staatskanzlei - hat die es gehört ?
H e u t e, heute immerhin eine Zulage. Wieder mehr Besucher dürfen kommen.
Vielleicht brauchen "die Entscheider", was mir schon seit über 20 Jahren fehlt: Urlaub.
Weg von Allem. Um dann 2/3 Wochen später, mit freierem Kopf und wieder mehr Spannkraft, überhaupt erst wieder fähig zu sein, im genau richtigen Moment das Richtige zu tun.
Solidarische freundliche Grüße von Beate Schwärzler
Montag, 24.Januar, 21:57 Uhr
Eurphrosine
noch schlimmer??
Da beschleicht einen denn die bange Frage, ob es nicht gar Absicht sein könnte?
Was ich freilich nicht glaube: ich vermute schlichtes Desinteresse. Schlimm genug.
Freitag, 21.Januar, 20:41 Uhr
Stephanie Knauer
Timing?
Die Staatskanzlei verpasst (oder verpatzt?) nicht nur ihre Einsätze, mir scheint, sie will sie gar nicht spielen. By the Way: Ein Musiker, der sich so etwas erlaubt wäre raus aus dem Geschäft.