Entdeckerin der Langsamkeit: Éliane Radigue zählt zu den absoluten Größen der elektronischen Musik. Erst im Januar wurde die französische Komponistin 90 Jahre alt. Nun widmet ihr die Berliner MaerzMusik eine eigene Retrospektive. Eine längst überfällige Würdigung dieser einzigartig eigenwilligen Musikerin.
Bildquelle: Éleonore Huisse/ Berliner Festspiele
Éliane Radigue bei den Berliner Festspielen
Die leise Radikale
Berlin an einem sonnigen Märznachmittag, ein dunkles Büro im Planetarium am Prenzlauer Berg: Der Komponist François Bonnet bereitet sich auf einen Marathon vor. Die Statur dafür hat er ja, groß und splirrig. Geht aber nicht ums Laufen. Geht ums Musikmachen: Einmal alles von Éliane Radigue steht auf dem Programm. Ihr elektronisches Gesamtwerk, aufgeführt im Berliner Zeiss-Großplanetarium und verteilt auf sieben Tage, respektive Nächte. Ist irgendwie ja auch eine Schöpfungsgeschichte.
90 ist sie gerade geworden, die Grande Dame der elektronischen Musik. Selbst konnte sie nicht kommen, also sitzt Bonnet an den Reglern. Die beiden kennen sich gut. Wahrscheinlich gibt es niemanden, der so vertraut ist mit ihren Sounds wie er. Mit diesen musikalischen Tiefdruckgebieten, die sich so zurückhaltend in den Wahrnehmungshintergrund schieben, dass sie einen manchmal vergessen lassen, dass man überhaupt etwas hört. Klingt wie die Definition von Ambient, oder?
"Ist es nicht!", da reagiert Bonnet fast ein bisschen brüskiert. Ambient sei das so gar nicht, sagt er. Im Gegenteil: Radigues Musik brauche das Konzert, brauche die aufmerksame Hörerin. Macht auch Sinn. Gerade weil sich ihre surrenden Klangflächen nirgends aufdrängen, muss man sich bewusst für sie entscheiden: Zuhören.
Als würde man dem Mond beim Wandern zusehen
Leise ist die Musik von Éliane Radigue, sanft und sorgfältig, friert die Zeit ein und macht den Moment weit. Dass und wie viel sich in ihr tut, bemerkt man oft erst im Rückblick. Etwa in ihrer "Étude" (1970), in der Radigue ein Stück von Chopin ganz langsam in Raumfrequenzen und Feedbackschleifen verschwinden lässt. Bis irgendwann nur noch Klangwolkenfetzen übrigbleiben. Eine ausradierte Erinnerung.
"Ein bisschen so, als würde man dem Mond beim Wandern zusehen", sagt Bonnet dazu. Wenn du hinschaust, hast du das Gefühl, es passiert nichts. Aber am Ende der Nacht, hat er es doch auf die andere Seite geschafft. Insofern sei das Planetarium schon ein passender Ort für diese Retrospektive. Auch wenn die Akustik ein wenig zu trocken sei, wie Bonnet sagt, den Klängen nicht ganz den Raum gebe, den sie brauchten.
Éliane Radigue, diese Feinmechanikerin der elektronischen Musik, hat eine ganz und gar unwahrscheinliche Karriere gemacht: als Frau in einer krassen Männerdomäne. Angefangen hat sie in den Fünfzigern, in den Experimentalstudios der zwei Elektro-Pierres, Schaeffer und Henry. Als einzige Frau damals. Wenn Eliane ins Studio komme, dann rieche es immer so gut. Solche Sätze erinnert sie noch heute.
So viel zum Thema künstlerische Wertschätzung. Vielleicht waren solche Erfahrungen auch ein Grund dafür, dass sie zu einer Art künstlerischen Eigenbrötlerin wurde. Jahrzehntelang hat Radigue überwiegend zuhause gearbeitet. Hat gelauscht, Knöpfe gedreht, Schalter gekippt, wieder gelauscht. Allein an ihrem Modularsynthesizer – ein Gerät so groß wie ein Wandschrank.
YouTube-Vorschau - es werden keine Daten von YouTube geladen.
Éliane Radigue - Opus 17 (Full Album)
"Sie hat definitiv einen starken Charakter, ist absolut kompromisslos", erzählt Bonnet. Eine politische Person sei Radigue jedoch nicht. Auch wenn ihr, der Frau, die sich "durchgesetzt" hat, immer wieder das Label einer Feministin verpasst wurde. Selbst verstehe sie sich jedoch nicht als eine. Oder wenn – dann nur in dem Sinne, dass sie einfach mache, was sie wolle.
Als Punk der elektronischen Musik, hat sie der deutsche Elektropopkünstler Jan St. Werner deshalb auch mal bezeichnet. Was erstmal absurd klingt, aber irgendwie schon stimmt: Radigues Musik ist anarchisch, pfeift auf Dramaturgie, kennt keine Vorgaben, steht (abgesehen vielleicht von der Musique concrète) in keiner Tradition. Auch adressiert sie kein bestimmtes Publikum, keine Szene. Radigues Musik funktioniere eben nicht über Codes, sagt Bonnet, sei kein Gimmick für Eingeweihte. Vorbildung – nicht nötig. Man könnte also sagen: Diese Musik ist radikal demokratisch. Vor ihr sind alle gleich. Nur zuhören muss man halt.
Die Retrospektive des elektroakustischen Werks von Éliane Radigue geht noch bis zum 27. März. Karten sind über die Website der Berliner Festspiele erhältlich. In der Mediathek der Festspiele sind die Konzerte außerdem als binauraler Audiostream verfügbar.
Sendung: "Allegro" am 23. März 2022 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (0)