Er ist Erfinder und macht sich durch sein eigenbrötlerisches Wesen zum Gespött der Stadt. Darum konstruiert sich Dr. Coppélius als Trost gegen die Einsamkeit eine mechanische Puppe, die er in seinem Fenster platziert und die er Coppélia nennt. Nichts wünscht sich Coppélius sehnlicher, als die Puppe zum Leben zu erwecken. Und als ein junger Mann in seine Wohnung einbricht, scheint das mit der Seelenwanderung tatsächlich zu klappen.
Bildquelle: Wilfried Hösl
In Zeiten der feurig geführten #MeToo-Debatten haben wir es bei Doktor Coppélius eigentlich mit einem alten Knacker zu tun, der auf eine junge Frau scharf ist. Und weil die nicht willig ist, erschafft Coppélius diesen Klon mit roter Haarschleife und schwarzem Rüschenkleid, namens Coppélia. Aber, von einer solch modernen, politischen Lesart ist die Choreografie von Roland Petit aus dem Jahr 1975 etwa so weit entfernt wie Mao Zedong vom Humanismus.
Vielmehr signalisiert eine scheppernde Drehorgel schon zu Beginn des Balletts, also noch ehe der erste Grand-Jete gesprungen ist: Wir befinden uns in einer nostalgischen, mechanischen und verklärten Phantasiewelt. Ein Dutzend Soldaten mit roten Federbüscheln auf dem Helm galoppiert wie Zirkuspferdchen auf einen Dorfplatz. Im Hintergrund begrenzt eine fensterreiche Häuserzeile die Bühne, der Putz bröckelt von der Mauer, Erker links und rechts geben der Szenerie einen Rahmen. Hier wienern die Männer zu einem durchdringenden Oboensolo ihre schwarzen Stiefel, zupfen sich den Schnauzer zurecht, lassen die Absätze zackig krachen, bereit für ihre Schätzchen. Und die wirbeln dann auch prompt herein, mit Blumenhütchen auf dem Kopf, knallrot geschminktem Puppen-Schnütchen und in voller Volant-Montur: Biedermeier meets Mazurka – oder auch K.-u.-K.-Monarchie meets Moulin Rouge.
1/10
Bildquelle: Wilfried Hösl
2/10
Bildquelle: Wilfried Hösl
3/10
Bildquelle: Wilfried Hösl
4/10
Bildquelle: Wilfried Hösl
5/10
Bildquelle: Wilfried Hösl
6/10
Bildquelle: Wilfried Hösl
7/10
Bildquelle: Wilfried Hösl
8/10
Bildquelle: Wilfried Hösl
9/10
Bildquelle: Wilfried Hösl
10/10
Bildquelle: Wilfried Hösl
Roland Petit hat seine Coppélia garantiert mit der Partitur in der Hand choreografiert: Jede Nuance der ungemein ausdrucksstarken Musik von Léo Delibes setzt Petit in passende Bewegungen um, und die müssen beileibe nicht immer klassischen Ursprungs sein. Zum Streichertremolo flattern die hoch gereckten Hände des Corps de Ballett wie in einer Broadway-Show. Und auch bei den drei Hauptfiguren schöpft Petit aus völlig unterschiedlichen Bewegungsquellen: Dr. Coppélius wackelt, schreitet und wiegt sich, wie ein abgehalfterter Abklatsch von Fred Astaire. In der Rolle des Dr. Coppélius gibt Luigi Bonino, ehemaliger Tänzer und Assistent von Roland Petit, einen mal mitleidserregenden, mal boshaften alternden Lustmolch. Und obwohl wir in der Fassung, wie gesagt, meilenweit weg sind von #MeToo und den Realitäten des 21. Jahrhundert, wirkt der melancholische Walzer von Coppélius und Coppélia trotzdem so abgründig und bitter, als würde er eine Sexpuppe mit Spitzenschuhen im Arm wiegen.
Präzise auf die Musik hat Petit auch die anderen beiden Hauptrollen choreografiert: Da ist einmal der junge Bursche Franz, der sich in die mystische Coppélia-Puppe im Fenster verliebt hat. Krampfhaft versucht Franz, seine lästig-anhängliche Verlobte loszuwerden. Hinter ihrem Rücken flattern Kaskaden von Kusshändchen zu süßen Flötenklängen hinauf zur unbekannten Schönheit im Fenster. Von Flummi-artiger Leichtigkeit sind die Sprungfolgen, die der gebürtige Brasilianer Denis Vieira als Franz vollführt. Die Puppe Coppélia beeindruckt er damit zwar nicht, aber das Publikum dafür umso mehr. Auch seine Pirouetten-Sequenzen gelingen dem neuen ersten Solisten so flink und kraftvoll, als wäre er mit einem Fuß im Bühnenboden verwurzelt.
"Coppélia" ist das erste Puppenballett überhaupt, 1870 in Paris uraufgeführt, ein Stück, dass voller märchenhaften Elemente steckt, das über die Entfremdung unter den Menschen erzählt und das einen Menschheitstraum aufnimmt, nämlich sich eine Kreatur nach den eigenen Vorstellungen zu erschaffen. Léo Delibes hat die Musik zur "Coppélia" komponiert, die Geschichte geht zurück auf eine Erzählung ("Der Sandmann") von E.T.A. Hoffmann.
In der Rolle der Swanilda, das ist eben jene lästige Verlobte, gibt sich Choreograf Petit nicht mit einer technisch perfekten klassischen Ballerina zufrieden, die sogar auf einem Vulkan noch Pirouetten drehen könnte. Petit erweitert den klassischen Kanon um hektisch zuckende Schultern, wackelnden Po, mechanisches Lächeln und grimmige Bärenblicke. Virna Toppi, neue erste Solistin beim Bayerischen Staatsballett, hat an diesem Abend mit Abstand die schwierigste Aufgabe: Sie wechselt nämlich zwischen motziger Braut, wenn Franz die Puppe anhimmelt, zur neugierigen Göre, wenn sie nachts in Coppélius' Wohnung einbricht. Toppi mimt eine skrupellose Lolita, wenn sie den alten Coppélius als verkleidete Puppe täuscht und bezirzt. Zuletzt schmachtet sie auch noch als hingebungsvolle junge Ehefrau im großen Finale.
Jetzt käme diese stark an der Musik orientiere Choreografie mit der Kurkapelle aus Hinterwieselharing sicher nicht zur Geltung. Das Bayerische Staatsorchester hat mit ausgesprochener Freude am Rumstata, mit sensibler Hingabe an das Liebespaar auf der Bühne und obendrein enorm präzise gespielt. So detailverliebt, schnittig und leuchtend wie an diesem Abend, ist die Musik von Léo Delibes vermutlich noch nie gespielt worden.
Insgesamt funktioniert die etwas altbackene, biedermeierliche, rüschige Coppélia hervorragend, wenn man jeglichen Anspruch auf psychologischen Tiefgang an der Garderobe abgegeben hat. Petits Choreografie und das Bayerische Staatsballett unterhalten auf technisch perfektem Niveau, dazu noch auf recht humorvolle, gelegentlich karikierende Weise. Das Publikum bedankt sich mit beseeltem Honigkuchenpferdgrinsen und begeistertem Applaus.
Ballett in drei Akten (1975) in der Choreografie von Roland Petit nach Musik von Léo Delibes
Premiere: Sonntag, 20. Oktober 2019
Alle Termine und weiteren Infos finden Sie auf der Homepage der Bayerischen Staatsoper.
Sendung: "Allegro" am 21. Oktober 2019 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (0)