Am 11. Januar wurde eine Spitzenposition im weltweiten Musikleben neu besetzt: Sir Simon Rattle wurde Chefdirigent von Symphonieorchester und Chor des Bayerischen Rundfunks. Eine große Überraschung war das nicht. Rattle war mit seinem Vorgänger Mariss Jansons eng befreundet, hat ihn als Künstler sehr verehrt. Auch wenn es noch bis Herbst 2023 dauert, bis Simon Rattle offiziell Chefdirigent wird, ist schon jetzt zwischen ihm und dem Orchester eine Verbindung spürbar, die nicht alltäglich ist. BR-KLASSIK-Kritiker Maximilian Maier mit einem persönlichen Blick auf diese besondere Beziehung.
Es war ein Gänsehaut-Moment. Augenblicke, für die man ins Konzert geht. Für die überhaupt Musik gemacht wird. Lange, sehr lange ist Stille nach der 9. Symphonie von Gustav Mahler. Simon Rattle steht regungslos in der Isarphilharmonie, mit geschlossenen Augen und hängenden Armen. Selbst als er die Spannung aufgibt, dankend mit dem schlohweißen Haupt in Richtung der Musikerinnen und Musiker nickt, stellt sich nicht gleich Applaus ein. Nicht weil es den gut 400 Menschen im Publikum – mehr dürfen aufgrund der Corona-Restriktionen nicht in den Saal – nicht gefallen hätte. Sondern weil sie noch zu gebannt sind. Sich hineingegeben haben in diese ersterbende Musik und in die Stille hineinspüren, sie genießen. Spätestens an diesem Abend Ende November wird manifest, was sich schon Anfang Januar abgezeichnet hat.
Ich fühle mich nun als Teil der Familie. Jetzt sitzen wir im selben Boot. Aber es ist erst der Beginn einer weiten Reise.
Zwischen dem BRSO und Rattle passt es. Das Bild der Familie klingt ein bisschen verdächtig – fast zu idyllisch, diese überbetonte Harmonie. Doch Rattle wird nicht müde, genau dieses Familiengefühl, diesen Zusammenhalt immer wieder zu erwähnen. Vielleicht auch, weil er gerade diesen bei den Berliner Philharmonikern, die bekanntlich besonders gnadenlos sein können, vermisst hat. Und sowohl in Proben als auch bei den Aufführungen wird spürbar, dass nicht nur Rattle es ernst meint, sondern dass auch das Orchester dieses Gefühl aufgreift und mitlebt. Auch künstlerisch ist man auf einer Wellenlänge: Rattle verehrte seinen verstorbenen Vorgänger am Chef-Pult des Orchesters, den Dirigent Mariss Jansons zutiefst, wie er wiederholt im BR-KLASSIK-Interview erzählt hat. Nun hat Rattle in einem knappen Jahr in verschiedenen Programmen einen Eindruck seines breiten Repertoires gegeben: Barock, Klassik, Romantik, Moderne, Zeitgenössisches – sogar eine Uraufführung. Die ganze Palette, natürlich auch im Zusammenspiel mit dem Chor, den Rattle als elementaren Bestandteil des künstlerischen Potentials und großes Geschenk bezeichnet.
Klar, ich bin hier, um frische Ideen zu bringen. Aber ich bin auch hier, um zuzuhören.
Sendung: "Allegro" am 22. Dezember 2021 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK