Am 12. März 2021 stellen das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und sein designierter Chefdirigent Sir Simon Rattle Werke vor, die im "normalen" Konzertbetrieb wegen ihrer kleinen Besetzungen nur sehr selten gespielt werden. Im Interview mit BR-KLASSIK spricht Rattle über den Zusammenhang zwischen Shakespeares Zeit und der Corona-Pandemie und äußert sich bestürzt über die gegenwärtige Lage britischer Kulturschaffender.
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BR-KLASSIK: Herr Rattle, seit der vergangenen Woche sind sie als offiziell designierter Chefdirigent an der Arbeit mit dem BRSO. Verändert diese Tatsache etwas in der gegenseitigen Wahrnehmung?
Sir Simon Rattle: Schwer zu sagen. Wie mich die Musiker begrüßt haben, war natürlich wunderbar! Sie sind so warmherzig. Aber ich habe dieses Orchester ja schon vorher geliebt. Was sich verändert hat: Jetzt fühle ich mich als Teil der Familie. Jetzt sitzen wir im selben Boot. Aber es ist ja erst der Beginn einer weiten Reise.
BR-KLASSIK: Soll denn ein Chefdirigent eine Richtung vorgeben oder nehmen, was er kriegt?
Sir Simon Rattle: Ich würde sagen, wir verändern uns gegenseitig.
Live aus dem Herkulessaal der Münchner Residenz: Sir Simon Rattle und das BRSO stellen Werke vor, die im "normalen" Konzertbetrieb wegen ihrer kleinen Besetzungen nur sehr selten gespielt werden: Brahms' Serenade in A-Dur, Haydns Symphonie Nr. 90 und Strawinskys Symphonien für Blasinstrumente.
Der BR-KLASSIK CONCERT Video-Livestream startet am 12. März 2021 um 20:30 Uhr.
BR-KLASSIK: Dieser Austausch mit den Orchestermusikern ist aber auch davon geprägt, dass eine Seite eine Richtung vorgibt.
Sir Simon Rattle: Stimmt, wir alle brauchen Orientierung, brauchen eine Richtung. Mariss hat in seinem letzten Lebensjahr wunderbare Konzerte gegeben, aber er war zu diesem Zeitpunkt schon schwer krank. Damals hatte er natürlich nicht mehr die Energie, etwas an der grundsätzlichen Richtung zu ändern. Warum auch, das Orchester war seinem Herzen so nah. Wir haben darüber oft gesprochen. Jetzt schlagen wir gemeinsam eine Richtung ein. Gestern habe ich mich mit den Mitarbeitern getroffen, mit den Notenwarten, mit dem Management und ich habe mich mit dem künstlerischen Beirat des Orchesters zusammengesetzt. Ich habe gesagt: Klar, ich bin hier, um frische Ideen zu bringen. Aber ich bin auch hier, um zuzuhören. Mich beeindruckt, wie offen sie sind. Und wie sehr sie die Dinge voranbringen wollen. Ich habe das Gefühl, wir können Musik entdecken, die erst gestern geschrieben wurde – bis hin zur Musik aus dem Mittelalter, aus der Zeit von Guillaume de Machaut. Das wird mir Freude machen! Auch, dass wir den großartigen Chor des Bayerischen Rundfunks als Teil unseres künstlerischen Potentials haben, ist ein riesiges Geschenk.
Ich bin hier, um frische Ideen zu bringen. Aber ich bin auch hier, um zuzuhören.
BR-KLASSIK: Als Mariss Jansons angefangen hat, hat er ganz bewusst Haydn-Symphonien aufs Programm gesetzt, weil er gesagt hat, damit könne man die Beziehung zwischen Orchester und Dirigent sehr gut klären. Das sei die Grundlage für alles andere.
Beseelt: Sir Simon Rattle dirigiert das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. | Bildquelle: © Astrid Ackermann Sir Simon Rattle: Interessant! Ja, ich weiß, Mariss hat Haydn immer geliebt und wunderschön interpretiert. Aber er hat ihn wohl nicht so oft gespielt, wie er eigentlich wollte. Zu Beginn seiner Münchner Zeit mehr als am Ende. Und so kam heute Morgen ein Musiker zu mir und sagte: Oh, wir hatten in der letzten Zeit eindeutig zu wenig Haydn! Da hab ich ihm geantwortet: Wenn ich da bin, dann wird das definitiv nicht das Problem sein! Es ist ja ein Glück, dass ich mich nicht entscheiden muss – Gott sei Dank! Aber wenn ich es müsste und nur einen Komponisten mit auf diese ominöse einsame Insel nehmen dürfte, dann wäre es Haydn. Natürlich Haydn! Er hat alles, was man braucht in der Musik. Mehr Intelligenz als fast jeder andere Komponist. Es gibt alles bei ihm: Humor, Tragödie, Angst, Freude ... Was für ein unglaubliches Geschenk, dass es diesen Menschen gab! Je mehr man von ihm kennt, desto mehr Ehrfurcht empfindet man vor ihm. Nehmen wir die 90. Symphonie, die wir spielen. Antal Dorati, der alle aufgenommen hat, meinte, sie sei eine der beiden großartigsten. Aber das Symphonieorchester hat sie noch nie gespielt!
Haydn lockt das Publikum in die Falle.
BR-KLASSIK: Sie haben gerade Haydns Humor erwähnt. Im Finale der 90. Symphonie gibt es ja diese wunderbare Stelle ...
Sir Simon Rattle: Oh ja, das ist wahrscheinlich der beste Witz, den Haydn je gemacht hat. Er lockt das Publikum in die Falle! Es endet im Glanz dieses C-Durs – und nach einer Pause, die gefühlt Jahrzehnte dauert, geht es plötzlich in Des-Dur weiter! Und dafür braucht man natürlich ein Publikum. Denn beim ersten Mal fangen sie an zu klatschen – und erschrecken dann, dass es weitergeht. Und wenn die Wiederholung kommt, klatschen sie wieder – aber brechen dann in Lachen aus, weil sie merken: Wir sind schon wieder darauf reingefallen ... Das können wir jetzt leider nicht machen. Ohne Publikum hat es keinen Sinn, diese Wiederholung zu spielen. Aber es bleibt diese unglaubliche Stille und dann das Des-Dur. Als wir das Stück zum ersten Mal in Berlin spielten, hatte ich vergessen, den Orchesterwart vorzuwarnen. Sie machten das Licht an und kamen schon auf die Bühne zum Abbauen. Und als ich den Einsatz zum Weiterspielen gab, bekamen sie einen Riesenschreck.
BR-KLASSIK: Haydn hätte seinen Spaß gehabt!
Sir Simon Rattle: Ja, es ist wild! Aber die ganze Symphonie ist ein einziges Wunder.
BR-KLASSIK: Die Symphonie lebt so sehr vom Dialog und von der Situationskomik, dass es sicher umso schmerzlicher ist, das Stück jetzt ohne Publikum aufzuführen, oder?
Sir Simon Rattle: Aber vergessen wir nicht: Während Shakespeare lebte und schrieb, herrschte für sieben Jahre eine Pandemie! Auch damals konnte nicht gespielt werden – und trotzdem schrieb er unglaubliche Stücke. Sie brachten sie auf die Bühne, sobald es möglich war. Und man muss dazu sagen: Keiner von uns hat die Spanische Grippe im Jahr 1918 erlebt.
Während des Sommers durfte in Großbritannien jeder in einen Pub gehen, aber niemand in einen Klavierabend.
BR-KLASSIK: Sind Sie denn zufrieden, wie die Kultur während der Corona-Pandemie von der Politik behandelt wird? Viele klassische Musikerinnen und Musiker sind ja wütend im Augenblick.
Sir Simon Rattle: Darf ich mit britischer Ironie antworten?
BR-KLASSIK: Bitte!
Sir Simon Rattle: Während des Sommers durfte in Großbritannien jeder in einen Pub gehen, aber niemand in einen Klavierabend. (sarkastisch) Ein Klavierabend könnte ja tödlich sein! (lachend) Hängt natürlich davon ab, wer spielt! Aber im Ernst: Das ist natürlich ein Riesenproblem. Denn bei den Leuten kommt die Botschaft an, dass irgendwas an dieser Live-Kultur sehr gefährlich sein muss. Und das ist natürlich Unsinn. Jeder legt größten Wert darauf, dass wir vorsichtig sein müssen. Aber es ist doch faszinierend, dass es keinen einzigen belegten Fall in Deutschland gibt, dass sich im Publikum eines Konzerts jemand angesteckt hat. Im London Symphony Orchestra gab es die einzigen beiden Covid-19-Fälle bei Musikern, die zum fraglichen Zeitpunkt gar nicht gespielt hatten. Wir waren ja auch alle extrem vorsichtig. Natürlich – wir haben ja auch keine Selbstmordabsicht.
Sir Simon Rattle äußert sich besorgt über die Zukunft des Kulturlebens. | Bildquelle: Thomas Rabsch / Warner Classics Aber wir kommen da an einen dramatischen Punkt. In Deutschland haben es die freien Musiker noch vergleichsweise gut. Ich finde eindrucksvoll, was da gemacht wurde. In Großbritannien haben so viele Musiker bereits den Beruf gewechselt. Das ist bereits Realität und wird uns in der Zukunft noch heftig treffen. In London werden wir demnächst in St. Luke's ein Konzert mit fast hundert Musikern geben, alles Streicher – unser fester Stamm und die Freelancer, mit denen wir sonst immer gearbeitet haben. Die hatten seit einem Jahr keinen Auftritt mehr! Oder meine guten Freunde vom Orchester der Metropolitan Oper in New York. Sie bekommen keinen Lohn – und es gibt keinerlei Sicherheit, dass sie überhaupt jemals wieder spielen werden.
In Deutschland haben wir also noch unglaubliches Glück. Und ich finde es sehr bewegend, dass die Musiker vom BRSO sich bewusst sind, wie gut sie es haben: Sie wurden bezahlt, sie konnten spielen. Und im Sommer haben sie so viele Kammerkonzerte gemacht, einfach um ihrem Publikum, ihren Abonnenten zu zeigen: Wir sind weiter für Euch da. Wir werden bezahlt, also spielen wir! Und sie haben dabei neue Freundschaften geschlossen. Vielleicht sind sie ihrem Publikum dadurch sogar noch näher gekommen. Das zeigt: Dieses Orchester macht sich wirklich Gedanken, wofür es eigentlich da ist.
Ich habe mich schon als Teenager in Brahms' zweite Serenade verliebt.
BR-KLASSIK: Einer der wenigen positiven Nebeneffekte dieser Pandemie ist, dass man Werke spielt, die es sonst selten auf die Konzertprogramme schaffen. Beispiel: die Zweite Serenade von Johannes Brahms. Sie hat eine reduzierte Besetzung ohne Geigen und ist für Pandemiezeiten ganz gut geeignet.
Sir Simon Rattle: Absolut! Unser Konzertleben war so dominiert von großbesetzten Werken. Für manche Dirigenten war es gar kein Konzert, wenn nicht mindestens acht Hörner auf der Bühne saßen. Nichts gegen diese fantastischen Schweinshaxen, ich liebe das ja auch. Aber jetzt haben wir keinen Bruckner gespielt, kaum Mahler, aber sehr viel mehr Schumann und Dvořák und dabei viele Stücke entdeckt, die in kleineren Besetzungen gut funktionieren. Und so entstehen ganz andere Konzertdramaturgien. Ich erinnere mich, als wir während des ersten Lockdowns Mozarts Gran Partita machten. Da sagte ich zu einem Musiker: Oh, wir sollten einfach öfter mal so eine Serenade spielen! Eine großartige Gelegenheit, das neu zu entdecken.
Es müssen nicht immer monumentale Orchesterwerke sein: Sir Simon Rattle liebt auch Werke mit kleinerer Besetzung. | Bildquelle: picture-alliance/dpa Die Zweite Serenade von Brahms ist eines seiner großen Meisterwerke. Sie stammt aus der Zeit des ersten Klavierkonzerts. Brahms war Anfang 20, er war schlank, attraktiv, hatte noch keinen Bart. Diese junge Brahms ist noch ganz erfüllt von Schumanns Geist. Ich habe mich schon als Teenager in das Stück verliebt. Das Oboenthema im letzten Satz hat mich komplett umgehauen. Diese besonders Farbe hat natürlich mit Brahms' Deutschem Requiem zu tun. Auch da gibt es im ersten Satz keine Violinen. Und weil es auch in der Serenade keine Geigen gibt, blühen die Bratschen auf – und natürlich sind die Holzbläser immer im Dialog. Es ist unter den vernachlässigten Meisterwerken eines der größten. Der Soloklarinettist des BRSO Stefan Schilling sagte mir, er sei 27 Jahre in diesem Orchester, aber er habe die Zweite Serenade von Brahms noch nie gespielt. Was für eine Freude, das jetzt gemeinsam zu spielen! Wir alle sind ja jetzt geradezu Virtuosen im Programm ändern geworden. Eigentlich war ja Mahlers Neunte geplant. Wie anders fühlt sich das jetzt an: Brahms' Zweite Serenade, Haydns Neunzigste Symphonie und Strawinskys Bläsersymphonien. Es ist eine andere Welt. Und wenn wir dann endlich zurückkommen zu Mahler, wird er noch wichtiger geworden sein nach dieser Erfahrung.
Das Interview mit Sir Simon Rattle wird am 12. März 2021 ab 20:05 Uhr auf BR-KLASSIK vor der Konzertübertragung ausgestrahlt.
Kommentare (1)
Donnerstag, 11.März, 11:48 Uhr
Wilfried Schneider
ES IST DER BEGINN EINER WEITEN REISE"
Danke für dieses Interview! Aber ein Widerspruch: Kultur, insbesondere Live-Kultur, ist für Politiker eminent gefährlich. Kultur regt zum selbständigen Denken an! Deshalb ist sie für die Politikerkaste ein schwer ausrottbares und nur unnütze Kosten verursachendes Übel! Das Corona-Virus ist als Kampfmittel gegen diese furchtbare Kultur äußerst hilfreich und willkommen.