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Kritik – "Nach den Letzten Tagen" auf der Ruhrtriennale in Bochum Alle Menschen werden müder

Ruhrtriennale-Intendantin Stefanie Carp sammelte Äußerungen von rechten und ganz rechten Politikern und machte daraus mit Regisseur Christoph Marthaler einen Abgesang auf Europa. Premiere war am 21. August. Musikalisch und textlich überzeugend war das nicht, eher plakativ.

Szene aus "Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend" bei der Ruhrtriennale 2019; Inszenierung Christoph Marthaler | Bildquelle: Matthias Horn/Ruhrtriennale 2019

Bildquelle: Matthias Horn/Ruhrtriennale 2019

Mag ja sein, dass Jodeln gefährlich ist, für die Stimmbänder zum Beispiel, aber gefährdet es auch die Demokratie? Mindestens so sehr wie deutscher Schlager und Richard Wagner – das jedenfalls war die ziemlich krude Botschaft zum nicht ganz ausverkauften Auftakt der Ruhrtriennale in Bochum. Intendantin Stefanie Carp hatte mit "Nach den Letzten Tagen. Ein Spätabend" eine Art Buß-Andacht für Europa geschrieben, eine Abrechnung mit rechten und ganz rechten Politikern. Aus dem Abstand von 200 Jahren, im Jahr 2145, blicken Funktionäre eines autoritären "Hohenzollern-Europa" auf das kriegerische 20. Jahrhundert und den Holocaust zurück.

Rassisten beim Jodeln

"Nach den letzten Tagen" auf der Ruhrtriennale 2019 – Szenenfoto | Bildquelle: Matthias Horn/Ruhrtriennale "Nach den letzten Tagen" auf der Ruhrtriennale 2019 – Szenenfoto | Bildquelle: Matthias Horn/Ruhrtriennale Boris Johnson bekam sein Fett weg (Kolonialismus!), Viktor Orban und allerlei österreichische Politiker, aber natürlich auch übergeschnappte "Identitäre" und sonstige Wortführer des Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus. Ungefähr eineinhalb Stunden lang ist das Publikum einer Flut von erfundenen und authentischen Reden von Hasspredigern ausgesetzt, angefangen vom Wiener Bürgermeister Karl Lueger, der bekanntlich Hitler prägte. Lauter wirre Fanatiker und Eiferer, die zur Musik von Richard Wagners "Tannhäuser" die Faschingströten blasen, nach ihren rassistischen Exzessen zu jodeln beginnen oder auch mal schunkelnd-schmalzig die Heimat besingen.

Einfältig gedacht und aufdringlich gemacht

Demgegenüber steht die Musik von jüdischen Komponisten, die im Holocaust umkamen, in den Konzentrationslagern der Nazis ermordet wurden, kurz nach dem Krieg ihren Krankheiten erlagen oder zur Emigration gezwungen wurden. Das war wohl provokant gemeint, sollte auch wohl ein besonders drastischer Kontrast sein: Hier die avantgardistische, zutiefst ehrliche, erschütternde Musik von Viktor Ullmann, Alexandre Tansman, Pavel Haas oder Józef Koffler, dort das hohle Pathos von Wagner und der seichte Schwulst des Schlagers. Das war einfältig gedacht und leider vom musikalischen Leiter Uli Fussenegger geradezu ärgerlich aufdringlich gemacht.

In Grund und Boden georgelt

Während ein Streichertrio mit Akkordeon- und Klarinetten-Begleitung die Musik der jüdischen Komponisten mit viel Herzblut interpretierte, wurde Wagner buchstäblich in Grund und Boden georgelt, im Großen Hörsaal der Ruhruniversität in Bochum steht das entsprechende Instrument zu Verfügung. Wahlweise durfte er auch geklimpert werden, ähnlich übrigens wie Beethovens Neunte ("Ode an die Freude"), und zum behaglichen Schlager kam natürlich ein Harmonium zum Einsatz. Nun war Richard Wagner zweifelsfrei Antisemit, allerdings auch Europäer – als Kronzeuge der Neuen Rechten ist er sicherlich falsch besetzt. Und nicht jeder Heimatbarde stärkt die gewaltbereiten Demokratie-Verächter.

Besonders plakatives Bekenntnis

"Nach den letzten Tagen" auf der Ruhrtriennale 2019 – Szenenfoto | Bildquelle: Matthias Horn/Ruhrtriennale "Nach den letzten Tagen" auf der Ruhrtriennale 2019 – Szenenfoto | Bildquelle: Matthias Horn/Ruhrtriennale Doch auch die Texte, die Stefanie Carp aus ihren Recherchen destilliert hat, wirkten über den gesamten Abend hinweg so ermüdend, dass die Zuschauer wie gelähmt folgten – ohne Lacher, ohne Unmut, überhaupt ohne jede Regung. Der Applaus war entsprechend zurückhaltend bis höflich, was nichts mit Ergriffenheit zu tun hatte. Letztes Jahr musste sich Stefanie Carp noch selbst als Antisemitin beschimpfen lassen, weil sie Musiker ein- und wieder ausgeladen hatte, die zum Boykott von Israel aufgerufen hatten bzw. sich davon nicht distanzieren wollten. Es gab einflussreiche Stimmen, die Carp wegen ihres ungeschickten Verhaltens vorzeitig loswerden wollten. Warum auch immer, in diesem Jahr wollte die Intendantin wohl alle ihre Kritiker mit einem besonders plakativen Bekenntnis zu Europa im Allgemeinen und seinen jüdischen Traditonen im Besonderen besänftigen. Doch für flammende Bekenntnisse zu Demokratie und Menschenrechten ist ein linksliberales Festivalpublikum wohl der falsche Adressat, zumal, wenn die Botschaft dermaßen simpel verpackt ist.

Todeskarawane singt Mendelssohn

Regisseur Christoph Marthaler hätte sich ganz auf die Weite des Audimax in der Ruhruniversität verlassen können: Das Publikum füllte in dem ovalen Riesenraum die eine Hälfte und schaute auf die vielen leeren Stühle in der anderen. Es blieb in der Schwebe, für wen die freien Plätze Sinnbild waren: für die ermordeten Opfer des Faschismus oder für die rechten Heilsprediger, die drauf und dran sind, Europa zu kapern. Statt es bei dieser beklemmenden Unwägbarkeit zu belassen, zeigte Marthaler gegen Ende des Abends seine Sänger und Schauspieler (herausragend: Bettina Stucky und Elisa Plüss, aber auch der souveräne Walter Hess und der eisig authentische Stefan Merki) als bleiche Gespenster, die auch noch ein Oratorium von Felix Mendelssohn-Bartholdy anstimmen mussten.

Fade, bleiern und weinerlich

Klar, es ist ungemein schwer, für den Holocaust angemessen abstrakte Bilder zu finden, aber diese waren einfach viel zu beliebig und oberflächlich. Obendrein erschöpfte der schier endlose Reigen von antifaschistischer Bekenntnismusik im zweiten Teil, bis hin zu Luigi Nonos Chor-Collage zur Erinnerung an die Opfer von Auschwitz. Das sollte aufrütteln, erschüttern, bewirkte aber leider das genaue Gegenteil, nämlich schläfrige Gleichgültigkeit. Einige Zuschauer gaben vorzeitig auf. Schade, dieser Auftakt zur Ruhrtriennale war fade, bleiern und ziemlich weinerlich. Nicht gerade das, was Europa derzeit braucht.

"Nach den Letzten Tagen" in Bochum

Informationen zu Terminen und Vorverkauf finden Sie auf der Homepage der Ruhrtriennale.

Sendung: "Allegro" am 22. August 2019 ab 06.05 Uhr auf BR-KLASSIK

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