Zwei starke Frauen stehen im Mittelpunkt von Händels "Agrippina", die die Männerwelt, gefangen in ihren Lüsten und Trieben, nach Belieben manipulieren. Am 23. Juli 2019 hatte "Agrippina" als zweite Neuproduktion der Münchner Opernfestspiele im Prinzregententheater Premiere. Alice Coote sang die Titelpartie, Franco Fagioli ihren Sohn Nerone, Ivor Bolton stand am Pult des Bayerischen Staatsorchesters. Und Barrie Kosky zeigte einmal mehr, dass er wirklich der Hexenmeister der Personenregie ist.
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Die Frau hat die Zügel in der Hand, alles tanzt nach ihrer Pfeife. Selbst das Orchester verstummt auf ihren Wink. Wenn Agrippina waltet, hat der Dirigent nix mehr zu melden. Sie ist eine machtbewusste Powerfrau, die unbedingt ihren Sohn Nerone auf den Thron bringen will. Dafür setzt sie alle Mittel ein, zieht alle Register: Verleumdung, Intrige, Erpressung und nicht zuletzt erotische Reize. Leicht wäre es für den Regisseur, da Bezug zur aktuellen Politik oder Themen wie Emanzipation, Frauenrechte oder #metoo herzustellen, die barocke Oper in ein heutiges, plakatives Gewand zu hüllen. Barrie Kosky macht aus "Agrippina" etwas ganz anderes: ein Kammerspiel, ein Kaleidoskop der menschlichen Emotionen. Jeder einzelnen Figur verleiht er ein individuelles Charakterporträt.
Elsa Benoit (Poppea) und Gianluca Buratto (Claudio) in "Agrippina" bei den Münchner Opernfestspielen | Bildquelle: © Wilfried Hösl
Das funktioniert auch deswegen, weil das gesamte Ensemble eine oscarreife Schauspielleistung abliefert. Agrippina (Alice Coote) ist eine Getriebene. Ihr Motor ist die enttäuschte Liebe, das Zurückgewiesenwerden von ihren Mann Claudio. Momente der Eifersucht und des Verletztseins zeigen die menschliche, empfindsame Seite. Die schöne Poppea (Elsa Benoit), die zweite starke Frau in dieser Oper, hat genau den gegengesetzten Antrieb: die Liebe zu Ottone (Iestyn Davies). Kaiser Claudio (Gianluca Buratto) ist ein schwanzgetriebener Macho, der viel zu testosteronüberfüllt ist, um zu bemerken, dass er eigentlich nur ein Spielball weiblicher Interessen ist. Und Nerone (Franco Fagioli) ist hier ein schwarzgewandeter ADHS-Emo mit Piercings und großem Tattoo auf dem kahlgeschorenen Schädel. Ein kindischer Schwächling, möglicherweise gebrochen von der überstarken Mutter, die selbst zu ihm erotische Kontakte pflegt. Es wundert keinen, dass er später das Mama-Monster umbringen lassen wird.
Barrie Kosky breitet diese Psychogramme in einem Detailreichtum und einer Genauigkeit aus, als würde er eine große Netflix-Serie in Szene setzen. Dazu dient ihm ein fahrbarer, veränderbarer Metallquader mit mehreren durch Jalousien verschließbaren Räumen als Bühne, gekonnter Lichteinsatz und geschmackvolle Kostüme. Der Rest ist das sichtbar gemachtes Innenleben der Figuren.
Szene aus Händels "Agrippina" bei den Münchner Opernfestspielen 2019 | Bildquelle: © Wilfried Hösl Und weil Kosky ein Könner ist, bricht er diese zutiefst ernsthafte Psychologisierung immer wieder ironisch. Zum Beispiel wenn Nerone die Tröstung der Armen Roms im Zuschauerraum am Publikum vollzieht, eine Dame in die Arme nimmt, Herren mit schmerzverzerrtem Gesicht pseudomitfühlend die Hand drückt. Oder wenn Agrippina eine ihrer Arien wie einen Popsong in ein tatsächlich verstärkendes Mikro singt. Oder wenn die Türklingel Poppeas, grausam verzerrt, Händels "Halleluja" zitiert. Das alles sind Lacher teilweise scharf an der Grenze zum Klamauk. Aber sie gestalten den dreieinhalbstündigen Abend kurzweilig und ziehen doch nichts in Lächerliche.
Enorm unterhaltsam ist auch das, was aus dem Graben kommt. Das perlt und prickelt, das klingt energetisch und packend. Gleichzeitig sorgt Ivor Bolton dafür, dass die Töne immer Substanz behalten, dass das Staatsorchester, mit Barockbögen spielend, seinen eigenen "Originalklang" mit einbringen kann. Alice Coote zeigt in der Titelpartie, dass sie auch musikalisch über enormen Gestaltungsspielraum verfügt, auch wenn sich in der Höhe Schärfen bemerkbar machen. In Sachen Höhe fliegt Franco Fagioli in eigenen Sphären. In der Arie "Come Nube Che Fugge Dal Vento" waren Töne dabei, die gefühlt die Grenze des für Männerstimmbänder physikalisch möglichen sprengen. Iestyn Davies führt einen sehr geschmackvollen, eleganten Counter vor. Und fulminant singt Elsa Benoit. Dem Eigengewächs aus dem Ensemble sollten spätestens ab jetzt sämtliche Türen offen stehen.
Zum Ende dieser gefeierten Premiere hat Barrie Kosky, der neben zwei bis drei spärlichen Buhs ebenfalls bejubelt wurde, noch eine kleine Moral parat. Die Oper endet nicht im Jubel für den Herrscher und Lobpreis der Götter. Bolton setzt dem musikalisch einen melancholischen Epilog hintan. Agrippina bleibt alleine zurück, verlassen von allen senkt sich die Jalousie vor ihr. Einsam und perspektivlos hat sie zwar ihr Ziel erreicht, glücklich ist sie dabei aber nicht geworden. Eines von vielen starken Bildern, das im Gedächtnis haften bleibt.
Premiere: Dienstag, 23. Juli 2019
München, Prinzregententheater
Musikalische Leitung: Ivor Bolton
Inszenierung: Barrie Kosky
Claudio: Gianluca Buratto
Agrippina: Alice Coote
Nerone: Franco Fagioli
Poppea: Elsa Benoit
Ottone: Iestyn Davies
Pallante: Andrea Mastroni
Narciso: Eric Jurenas
Lesbo: Markus Suihkonen
Bayerisches Staatsorchester
Mehr Informationen und Termine gibt es auf der Homepage der Bayerischen Staatsoper.
Sendung: "Allegro" am 24. Juli 2019 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (3)
Donnerstag, 25.Juli, 11:01 Uhr
BR-KLASSIK
Antwort an Gerd Munker und Thomas Winkelbauer
Da im Münchner Prinzregententheater der Zugang zu technischen Mitteln, die für ein sendbares Klangergebnis unbedingt nötig gewesen wären, nicht möglich war, musste die Übertragung leider abgesagt werden. Wir bedauern das sehr.
Mittwoch, 24.Juli, 18:19 Uhr
Gerd Munker
Übertragung im Radio
Warum wurde diese Premiere denn nicht live übertragen???
Mittwoch, 24.Juli, 17:39 Uhr
Winkelbauer Thomas
Agrippina
Schade, dass diese Premiere entgegen der Ankündigung in der Programmübersicht der Festspielzeit 2019 ohne Angabe von Gründen nicht übetragen worden ist. Vielleicht folgt eine Aufzeichnung zu einem späteren Zeitpunkt?