Sir Simon Rattle und das London Symphony Orchestra spielen am 2. Mai im Münchner Gasteig - im Rahmen der Konzertreihe "musica viva". Johann Jahn hat mit dem Dirigenten über das bevorstehende Debüt gesprochen und ihn auch gefragt, was für Auswirkungen der Brexit auf seine Arbeit hat.
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BR-KLASSIK: Sir Simon, Sie haben einmal gesagt, dass der Chefposten beim LSO, dem London Symphony Orchestra, jenes "berühmte Angebot" war, das man nicht ablehnen konnte. Warum?
Simon Rattle: Es ist ein Orchester, das ich schon mein ganzes Leben lang höre. Aber obwohl ich es schon früh in meiner Laufbahn ein paar Mal dirigiert habe, hatten wir bis vor zehn Jahren kein wirklich enges Verhältnis. Als ich die Musiker dann näher kennenlernte, merkte ich, dass sie nicht nur extrem flexibel sind, sondern auch sehr neugierig und aufgeschlossen. Und obwohl sie auf eine außergewöhnliche Geschichte und eine großartige Tradition zurückblicken können, reden sie nicht allzu viel darüber. Das Besondere hier in London ist vielleicht die Offenheit der Musiker. Aber dann ist da natürlich auch noch ein ganz persönlicher Bezug, in meine alte Heimat zurückzugehen, so problembeladen sie jetzt gerade auch sein mag. Ein paar Leute kenne ich tatsächlich seit 50 Jahren, und vom Orchester so einige, wenn auch nicht viele, noch aus der Studienzeit. Andere sind seit der Kindheit Freunde von mir, es ist ja ein sehr junges Orchester. Grundsätzlich hat man hier das Gefühl, keine Grenzen nach oben zu kennen, nie verloren zu sein. Es ist einfach eine ganz besondere Reise, und auf unserem gemeinsamen Weg schon so bald in München bei der "musica viva" anzukommen und zu spielen, ist wirklich aufregend. und das mit einem Programm, das sonst wohl nie hier gespielt würde – nicht einmal vom fantastischen Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks.
Bei musica viva zu spielen, ist wirklich aufregend.
BR-KLASSIK: Warum meinen Sie, dass das LSO gerade für dieses Programm – ein britisch-amerikanisches mit Werken von Birtwistle, Turnage und Adams – geeignet ist? Kann es das vielleicht sogar "besser" spielen als ein deutscher Klangkörper?
Simon Rattle: Weil es einfach anders ist. Das Rhythmusgefühl ist interessanterweise unterschiedlich – das hat mich fasziniert, als ich aus England beziehungsweise Amerika nach Mitteleuropa kam. In einem Programm wie diesem ist ein Orchester, für das Rhythmus die Basis von allem ist, von unschätzbarem Wert. Beim LSO müssen wir vielleicht manchmal härter an den unterschiedlichen Klangqualitäten arbeiten, grundsätzlich an der Farbe. Aber die Präzision und rhythmische Kompetenz des Orchesters ist unglaublich. John Adams hat eine lange Beziehung zum LSO und dirigiert es recht häufig, so dass für das LSO Stücke wie "Harmonielehre" fast schon Repertoire sind. Anders ist es dagegen bei Birtwistle: Dessen Musik hat das LSO bisher eher selten gespielt. Aber wir haben jetzt viel von unserer Arbeit in Birtwistle investiert. Er ist unser womöglich originellster Komponist, der wirklich wie niemand sonst komponiert.
BR-KLASSIK: Sie haben das Werk von Birtwistle angesprochen. Es bezieht sich auf das berühmte Werk Melencolia von Albrecht Dürer. Sind Sie selber eigentlich ein Mensch, der sich manchmal zur Melancholie hingezogen fühlt? Das ist ja ein Zustand, der auch in der Geschichte immer gerne dem Künstlertypus zugeschrieben wird.
Simon Rattle: Ach, etwas Dunkles haben wir doch alle, aber ich bin, wie meine Familie versichern würde, geradezu manisch optimistisch. Aber schon so, dass es auch auf die Nerven gehen kann. (lacht)
Der Brexit macht einfach keinen Sinn.
BR-KLASSIK: Das ist auch ein gutes Stichwort zu dem Thema, das wir natürlich unbedingt auch kurz streifen müssen: der Brexit. Wie optimistisch sind Sie da in Bezug auf die tägliche Arbeit mit dem LSO?
Sir Simon Rattle | Bildquelle: BR/Astrid Ackermann Simon Rattle: Einfacher macht es die Dinge bestimmt nicht, soviel ist sicher. Von den Künstlern mit Tournee-Engagements im Ausland, die ich kenne, unterstützt fast niemand den Brexit. Er macht einfach keinen Sinn, so wie wir in Europa – in ganz Europa – leben und atmen und arbeiten, und es ist ja ein sehr gemischtes Orchester. Um ein Beispiel in Bezug auf unser Konzert [am 2. Mai in München] zu nehmen: Wir spielen am Abend zuvor Konzert in London. Wir wissen aber nicht, ob wir ein Carnet, also einen Pass, für die Instrumente brauchen, wie wenn wir beispielsweise in die Schweiz reisen würden. Niemand kann uns etwas darüber sagen, weil niemand irgendeine Art von Antwort für irgendetwas hat, das mit Reisen oder Handel zu tun hat …
BR-KLASSIK: Hätten Sie sich in Sachen LSO eigentlich anders entschieden, wenn Sie das vorher gewusst hätten, also wenn der Brexit schon entschieden gewesen wäre?
Simon Rattle: Gute Frage. Ich habe tatsächlich nur wenige Monate vor dem Brexit in London unterschrieben. Am liebsten stelle ich mir vor, es hätte mir nicht zu denken gegeben, weil die Arbeit mit dem Orchester etwas so Wichtiges und so Positives ist ... Jedenfalls musste ich es damals nicht entscheiden. Wir haben aber sehr wohl festgestellt, dass sich weniger Leute aus Europa um ein Vorspiel beim Orchester bewerben. Das ist Fakt und ich kann es verstehen, weil einfach niemand weiß, wie die Situation sein wird, und wie leicht man Genehmigungen, Visa etc. bekommen wird. Wir werden sehen.
Sendung: "Allegro" am 2. Mai 2019 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK
London Symphony Orchestra und Sir Simon Rattle
RÄSONANZ – STIFTERKONZERT DER ERNST VON SIEMENS MUSIKSTIFTUNG
Donnerstag, 2. Mai 2019, 20:00 Uhr
Philharmonie im Gasteig
Alle weiteren Informmationen auf der Webiste der Konzertreihe musica viva
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