Ziemlich wenig Schatten in Karthago: An der Bayerischen Staatsoper wird Hector Berlioz' Monumentalwerk zu einem Duell zwischen Freikörperkultur und Frömmelei - das regte manchen auf. Gleichwohl gab es auch viel Zustimmung für den Fünf-Stunden-Abend.
Bildquelle: Bayerische Staatsoper / Wilfried Hösl
Kritik
"Les Troyens" an der Bayerische Staatsoper
Bange machen gilt nicht, jedenfalls nicht in München. Das ist wohl die einzige Stadt in Deutschland, wo sich rund 2.000 Leute finden, die an einem Montagnachmittag um 17 Uhr nach dem Büro oder dem Mittagsschlaf in die Staatsoper strömen, um dort fast fünfeinhalb Stunden abzusitzen. Und zwar nicht etwa Wagner oder Strauss, sondern ein sperriges Werk von Hector Berlioz. Dessen "Trojaner" pendeln inhaltlich zwischen Sandalenfilm und Melodram. Das Trojanische Pferd hat seinen Auftritt, die Griechen brennen die Stadt nieder, die Einwohnerinnen flüchten sich vor der drohenden Massenvergewaltigung in den Freitod, und drüben auf der anderen Seite des Mittelmeers, in Karthago, wohin sich Aeneas mit seinen Gefährten in Sicherheit bringt, tobt auch wieder ein Kolonialkrieg.
Bei den Trojanern an der Bayerischen Staatsoper räkeln sich nackte Männer in der ewigen Sonne. | Bildquelle: Bayerische Staatsoper / Wilfried Hösl Allerdings räkeln sich dort auch jede Menge Nackte in der ewigen Sonne. In diesem Garten der Küste geht´s ziemlich heiß zu. In jedem Monumentalstreifen muss es ja auch eine Orgie geben, das riskierte Hollywood sogar schon in den biederen fünfziger Jahren. An der Bayerischen Staatsoper allerdings ließ der französische Regisseur Christophe Honoré vor allem Männer aufeinander los, was einige Zuschauer so sehr aufregte, dass sie lautstark protestierten.
Dabei zeigten die zur langatmigen Ballett- und Pantomime-Musik eingespielten Videos keineswegs Pornographie, sondern tiefenentspannte, nackte Kerle, die ihrer Libido freien Lauf ließen und dabei eher an barockes Theater erinnerten: Ihre Sinnlichkeit wurde mit Vergänglichkeit konfrontiert, ihre Schönheit mit Hinfälligkeit. Würmer wühlten auf dem Bett, Blut quoll aus Wunden, und am Ende verbrennen die Epheben sämtlich auf dem Scheiterhaufen.
Karthago als Inbegriff einer durch und durch hedonistischen Welt, die Hilfe von außen benötigt, wenn sie sich mal verteidigen muss. Troja dagegen ist bei Christophe Honoré eine Metropole der Frömmelei, voll gestopft mit Pilgern in grauen Kutten, die erst dem ihrem Aberglauben hofieren und sich dann in ihre Wahnvorstellung von einem "ewigen" Rom hineinfantasieren. Dass beide Städte nicht viel gemeinsam haben, ist klar.
Das Bühnenbild besteht aus bröckelndem, weißen Marmor. | Bildquelle: Bayerische Staatsoper / Wilfried Hösl Obwohl: Ein paar Trojaner verlieren ihre Herzen dann doch in Nordafrika, allen voran Aeneas, der sich in Königin Dido verliebt und auch ein paar seiner Krieger, die ihr Coming Out am Swimming Pool absolvieren. Das alles funktioniert prächtig, wenngleich der erste Teil doch zeitweise langweilt: Das liegt an Hector Berlioz, der mit dem französischen Klassizismus liebäugelt, der im barocken Bayern so gar nicht ankommt, und es liegt an Ausstatterin Katrin Lea Tag, die den weißen Marmor bröckeln lässt und damit diesen Klassizismus noch ins Absurde übertreibt.
Dirigent Daniele Rustioni bekam für seinen leidenschaftlichen Grand Opera-Furor verdient viel Beifall: Da fehlte es weder am Tempo, noch an Kontrasten. Mit halben Sachen hielt sich Berlioz ja ungern auf, und Rustioni machte das stets hörbar. Gut, auf die Dauer wird das nicht enden wollende Auf und Ab zwischen Massenszenen-Hysterie und innigen Aussprachen etwas eintönig, aber Berlioz war halt kein mit allen dramaturgischen Kniffen vertrauter Theaterpraktiker wie Wagner.
Unter den 19 Solisten glänzten der amerikanische Tenor Gregory Kunde als Aeneas, die kanadische Altistin Marie-Nicole Lemieux als Cassandra und die belarussische Mezzosopranistin Ekaterina Semenchuk als Königin Dido. Auch so eine Marotte von Berlioz, dass er Sopranistinnen in diesem Werk nur in Nebenrollen einsetzte.
In den kleineren Rollen schwächelte der eine oder andere, aber bei diesem gewaltigen Cast ist das mehr als verzeihlich. Insgesamt ein enorm fordernder Abend, der sich für Neugierige auf jeden Fall lohnt und die Bayerische Staatsoper einmal mehr schmückt, so souverän und unerschrocken, wie sie sich dieser heiklen Aufgabe stellte. Im Schlussapplaus zeigte sich der Chor übrigens mit der ukrainischen Flagge, was noch einmal in Erinnerung rief, dass es in den "Trojanern" ja um Kriege und ihre Opfer geht. Doch die nachrichtliche Gegenwart in die Oper irgendwie mit "hinein zu inszenieren", wäre keine gute Idee gewesen: Solche Aktualitäten altern leider rasend schnell.
Sendung: "Allegro" am 10. Mai 2022 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK