In seinem letzten Lebensjahr hat Franz Schubert sechs wunderbare "musikalische Augenblicke" an die Öffentlichkeit gegeben. Mit einem Grammatikfehler im Titel – "Moments musicals" statt "musicaux" – sind die Stücke im Jahr 1828 im Druck erschienen. Sechs Augenblicke sind es, sie dauern zwischen gut anderthalb und acht Minuten und sind technisch nicht besonders anspruchsvoll. Doch stellen diese "Moment musicaux" eine ganz besondere Wendung in der Geschichte der Klavierliteratur dar. BR-KLASSIK hat mit dem russischen Pianisten Nikolai Tokarev über das Werk gesprochen.
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Als Schubert den Zyklus der sechs "Moments musicaux" in Druck gab, konnte er sicher nicht damit rechnen, dass sie zusammen mit den Impromptus sogar sein gesamtes Klavierwerk an Popularität in den Schatten stellen würden. Alles, was sich Schubert wünschte, war endlich einmal einen Verkaufserfolg. So hielt er sich in den technischen Anforderungen bewusst zurück. Doch gerade diese Einfachheit stellt selbst erfahrene Tastenlöwen vor schwere Aufgaben, meint der russische Pianist Nikolai Tokarev: "Das Komplizierte an den 'Moments musicaux 'ist ihre Einfachheit. Man sollte da nicht nach dem tieferen Sinn graben, man soll sich keine großen Geschichten beim Spielen ausdenken. Es gibt darin auch keine pianistischen Schwierigkeiten, was schon allein manche Pianisten stutzig macht. Denn je anspruchsvoller das Stück, desto vorteilhafter kann man sich zeigen. Das Schwierigste an diesem Zyklus ist seine Natürlichkeit. Es ist ziemlich schwer, die 'Moments musicaux' einfach und ungekünstelt zu spielen – ähnlich wie es schwerfällt, einfach zu reden ..."
Fast fröhlich und mit einem Jodlermotiv, wie man es aus den österreichischen Bergen kennt, beginnt das erste "Moment musical". Kuckucksrufe, ein Echo – die Momentaufnahme einer Naturidylle. Das zweite Stück im wiegenden As- Dur ist reine Liebespoesie. Doch keine Liebe ohne Tragik – der mittlere Teil ist im finsteren fis-Moll gehalten, eine Tonart aus dem entgegengesetzten Ende der Tonarten-Welt. As-Dur und fis-Moll – beide Tonarten haben wegen verschiedener b- und Kreuzzeichen keinen einzigen gemeinsamen Ton. Dieser Wechsel zwischen weit voneinander entfernten Tonarten ist mit einer Magie des Lichtwechsels verbunden, die in Schuberts Werken oft zu hören ist und die für die ganze Romantik bedeutsam bleiben sollte.
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Die Gefahr ist groß, alles gleich zu spielen, um den inneren Zusammenhang zu behalten.
Nikolai Tokarev | Bildquelle: picture-alliance/dpa "Man muss dort einen Bogen erkennen, der sich vom ersten Moment bis zum letzten durchzieht", sagt Nikolai Tokarev zu den "Moments musicaux". "Es ist ja ein Zyklus, und alle Moments als ein Ganzes darzustellen und trotzdem jedes Stück für sich einzigartig zu belassen – das ist die nächste Schwierigkeit. Viel zu groß ist nämlich die Gefahr, alles gleich zu spielen, um den inneren Zusammenhang zu behalten." Nicht von ungefähr entschied sich Nikolai Tokarev für die "Moments musicaux" auf seiner ersten Plattenaufahme mit dem schlichten Titel "CD Nr. 1". Darin zaubert er klare Strukturen und fast improvisierte Musikeinfälle. Der gelegentlichen Kritik, dass sein Schubert nicht genug Tiefgang hätte, begegnet der Pianist mit Humor: "Ein Kritiker schrieb, dass mir in Schuberts 'Moments musicaux' die Tiefe fehlt und verglich meine Interpretation mit der von Alfred Cortot. Dieser starb allerdings zwei Tage nach seinem Schubert-Konzert. Und der Kritiker schrieb: 'Natürlich, im Vergleich mit Cortot fehlt dem jungen Russen die tragische Stimmung'. Da habe ich mich, ehrlich gesagt, eher gefreut, dass mir diese Todestragik fehlt ... (lacht)".
Das vierte "Moment musical" könnte ein motorisches Präludium von Johann Sebastian Bach sein. 1824 hatte Schubert das "Wohltemperierte Klavier" kennengelernt und sich zur Entstehungszeit der Stücke intensiv damit beschäftigt. Das ständig in sich kreisende Moderato in cis-Moll ist wie ein Gruß an Bach von der Schwelle zur Romantik. Die fünfte "Momentaufnahme" zeigt sich mit strammem Rhythmus, bevor das finale "Allegretto" Reinheit und Glückseligkeit verströmt.
Er hat Töne für die feinsten Empfindungen, Gedanken, ja Begebenheiten und Lebenszustände.
Die Bandbreite der Stimmungen und Klangfarben in diesen sechs Miniaturen ist enorm. "Er hat Töne für die feinsten Empfindungen, Gedanken, ja Begebenheiten und Lebenszustände", schrieb Robert Schumann über Schuberts Klaviermusik. Doch außer ihren mannigfaltigen Stimmungen haben die "Moments musicaux" noch eine andere Bedeutung in der Musikliteratur. Schubert schuf damit als erster die Gattung der Klavierminiatur, die sich später unter tausend verschiedenen Namen als "Lied ohne Worte", "Intermezzo" und ähnlichen Bezeichnungen in Hülle und Fülle entfaltete. Die "Moments" stehen zwar stilistisch mit einem Fuß noch in der Wiener Klassik; es sind Tänze, Etüden, Variationen. Doch haben die Stücke bereits einen neuen Inhalt. Und eine neue Form der knappsten Art, Gefühle auszudrücken. Eben aus diesen kleinen Klavierstücken Schuberts erwuchsen die Wege, die Schumann, Mendelssohn, Brahms, Rachmaninow und viele andere Komponisten gingen – die Wege der romantischen Klaviermusik.
Franz Schubert:
Moments musicaux für Klavier, D 780, op. 94
Nikolai Tokarev (Klavier)
Label: Sony Classical
Sendung: "Das starke Stück" am 11. April 2023, 19.05 Uhr auf BR-KLASSIK