Sie stehen vor den Trümmern ihrer Karriere: Balletttänzerinnen und -tänzer aus der Ukraine. Wegen des Krieges liegt die Kulturszene ihrer Heimat brach. Über Tänzer*innen auf der Flucht und die neue Rolle des Berliner Staatsballetts.
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Früher Morgen am 24. Februar 2022. Vladimir Putin erläutert in einer Rede die, wie er sagt, "militärische Spezialoperation zur Entnazifizierung des Donbass". Zu diesem Zeitpunkt reist ein Teil des Kiewer Nationalballetts gerade nach Paris, zur großen Frankreichtournee mit bedeutenden russischen Klassikern. Schnell ist klar: die Compagnie kann nicht zurück. Dank der Unterstützung durch die Pariser Bürgermeisterin bleiben die 30 Tänzerinnen und Tänzer beim Théâtre du Châtelet.
Das Berliner Staatsballett hilft geflüchteteten Tänzern. Rund 150 Tänzer-Anfragen liegen bei Christiane Theobald im Postfach. | Bildquelle: picture alliance Auch beim Berliner Staatsballett kommen schon zwei Tage nach Kriegsbeginn E-Mails aus Charkov, Lviv und Kiev. Ballerinen fragen nach Jobs, Training, nach Auditions. Die kommissarische Intendantin Christiane Theobald hilft. "Wir öffnen hier die Türen und geben die Gelegenheit zum Training", sagt sie. "Keine Vorstellungen ist ja schon schlimm, aber nicht mehr trainieren ist ganz fürchterlich." Denn die Karriere für Tänzer*innen ist kurz. Umso wichtiger, dass sie täglich trainieren. Für den Tag X, wenn es wieder auf die Bühne geht.
Es ist für die Tänzerinnen und Tänzer das Allerschlimmste, wenn sie nicht mehr trainieren können.
Tägliches Training ist für Tänzerinnen und Tänzer das A und O. | Bildquelle: picture alliance / PantherMedia | Volodymyr Melnyk Einige Ballerinen sind schon ein paar Wochen da, erzählt Christiane Theobald. Andere kommen zwei Tage und ziehen dann weiter. "Das Staatsballett Berlin ist so ein Drehkreuz, eine Art Umsteigebahnhof, von wo aus man dann weiter zieht." Das Netzwerk innerhalb der Tanzszene funktioniert gut. Schnell findet sich eine Schlafstelle, man trifft auf Bekannte aus der Heimat. Wer trainieren will, bekommt einen Platz. Dann ist nur noch die Corona-Hürde zu bewältigen. Das Berliner Ballett wird drei Mal pro Woche PCR getestet. "Die Gäste müssen ja auch getestet werden. Da musste ich dann erst mal Geld auftreiben, weil das nicht von unserem Budget gemacht werden kann."
Welche Hilfen gibt es speziell für Kunstschaffende aus der Ukraine? Initativen, Jobangebote und Stipendienprogramme - Hier finden Sie eine Übersicht.
Dreißig verschiedene Nationalitäten tanzen beim Berliner Staatsballett. Die erste Solistin Jana Salenko ist Ukrainerin. Zur Compagnie gehören aber auch viele Russinnen und Russen. "Das funktioniert bei uns tadellos", so die kommissarische Intendantin. Einmal hat sie die Angst eines Tänzers bemerkt. "Da hab ich ihn gefragt, wie es ihm geht. Und er hat geantwortet: 'Ich bin Russe und ich fühle mich so schlecht.' Er ist unglaublich aktiv in der Hilfe für die Ukraine."
Rund 150 Tänzer-Anfragen liegen bei Christiane Theobald im Postfach. Doch Jobs in klassischen Compagnien sind in Deutschland rar. "Ich träume von einem Exilensemble, damit die Tänzer auch zu Vorstellungen kommen." Den konkreten Vorschlag für eine "Exilcompagnie für den Frieden in Europa" hat Christiane Theobald bei Kulturstaatsministerin Claudia Roth platziert. Im Orchesterbereich wurde eine ähnliche Initiative bereits Realität: Das Ukrainian Freedom Orchestra besteht aus geflüchteten Musiker*innen, ukrainischen Mitgliedern europäischer Orchester und aus Musiker*innen ukrainischer Orchester.
Seit 1982 wird jedes Jahr am 29. April der Welttag des Tanzes gefeiert. Der Aktionstag erinnert an den französischen Tänzer und Choreografen Jean-Georges Noverre. Er wurde am 29. April 1727 geboren und gilt als Begründer des modernen Balletts.
Egal ob aus Russland oder der Ukraine, die geflüchteten Tänzerinnen und Tänzer sind alle exzellent ausgebildet. | Bildquelle: picture alliance / Zoonar | Max Nicht nur ukrainische Ballerinen verlassen ihr Land. Auch den großen russischen Ensembles wie dem Bolschoi-Ballett laufen die Profis weg: Russinnen, Ukrainer, Italienerinnen, Franzosen. Olga Smirnova, ehemalige Primaballerina des Moskauer Bolschoi-Balletts, erregte Aufsehen, weil sie im März ihren Job aus Protest kündigte und an das Niederländische Nationalballett wechselte. Egal ob aus Russland oder der Ukraine, die geflüchteten Tänzerinnen und Tänzer sind alle exzellent ausgebildet. Und sie kommen aus Ländern, in denen das traditionelle klassische Ballett kein Nischendasein führt wie in Deutschland. Christiane Theobald verbindet damit eine Hoffnung: Vielleicht erhält das klassische Ballett durch diesen Exodus ja eine neue Relevanz.
Allerdings: Nicht alle Tänzer sehen sich derzeit als schwerelose Wesen über die Bühne springen. Oleksiy Potyomkin, erster Solist aus Kiev, ist zur Armee gegangen. Als Sanitäter dokumentiert er den Freiheitskampf auf Facebook. Von der Ballerina Lesya Vorotnyk kursiert auf Twitter ein Foto mit Kalaschnikow, auch sie kämpft.
Sendung: "Allegro" am 29. April 2022 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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