Goethes so tragischer wie erfolgreicher Briefroman als Vorlage einer Oper: Jules Massenet landete damit 1892 einen Volltreffer. Intendant André Bücker gelingt im Ausweichquartier Martinipark eine poetische und ergreifende Deutung inmitten von Kartonagen.
Bildquelle: Jan-Pieter Fuhr
Heute wäre es wahrscheinlich eine What's App-Romanze, oder auch eine Instagram-Story, aber weil Goethe noch auf die Post angewiesen war, ist sein "Werther" eben ein Briefroman. Und das Porto, das war damals noch so richtig teuer, um nicht zu sagen unerschwinglich. Das würde heute wohl locker für die Luftpost reichen. Einer von diesen besonders leichten, rot-weiß-blau gestreiften Umschlägen, wie es sie früher mal für Übersee-Sendungen gab, wird zum Auftakt von Jules Massenets Oper "Werther" im Staatstheater Augsburg riesengroß auf eine Leinwand projiziert. Und davor, auf der Drehbühne, sind alle Kulissenteile aus Pappkarton oder jedenfalls aus einem Material, das möglichst danach aussehen soll.
Szene aus "Werther" in Augsburg | Bildquelle: Jan-Pieter Fuhr
Ein Baum, in dem schwarze Krähen hocken, ein Glockenturm, ein Haus, ein Gartentor. Eine so naheliegende wie berührende Idee von Regisseur André Bücker und seinem Ausstatter Jan Steigert, aus dem "Werther" ein ergreifendes Papier-Theater zu machen. Und auch der Einfall, alle Mitwirkenden in schwarze Rokoko-Kostüme zu kleiden, war bildmächtig und von geradezu unheimlicher Wirkung. Wie Spukgestalten aus einer Gespenstergeschichte von E.T.A. Hoffmann staksten die Sänger herum, stets umgeben von den typischen Aufschriften von Pappkartons: "Handle with care" und "Fragile", auf deutsch "Nicht stürzen" oder auch "Vorsicht, Glas!". Piktogramme, wie zum Beispiel die Pfeile, die zur Oberseite von Paketen weisen oder auch ein Weinglas-Symbol, entwickeln optisch ein Eigenleben.
Szene aus "Werther" in Augsburg, Xavier Moreno, Natalya Boeva | Bildquelle: Jan-Pieter Fuhr
Zwei junge Medien-Designer, Mareike Patzke und Jürgen Branz, haben sich ganz in die Bildwelt von Versandkartons und Briefen versenkt und daraus unaufdringliche, aber effektvolle Animationen gemacht. So fliegen Buchstaben erst übers Papier und dann wie die Krähen davon. Die aufgestempelten Wellen, die gemeinhin auf Umschlägen das Porto entwerten, und andere postalische Grafiken schwirren und wabern im Hintergrund. Plausibel auch André Bückers Konzept, die riesigen Perücken des Rokoko zum Sinnbild der Standesgesellschaft zu machen, in der gesellschaftliche Regeln noch deutlich wichtiger waren als die romantische, "freie" Liebe. Werther setzt sich so sein Ding in dem Moment auf den Kopf, wo er zum ersten Mal auftritt, und er nimmt seinen Zopf ab, als er im Sterben liegt, erst dann ist auch seine Charlotte bereit, ihre Perücke zu opfern.
Das alles ist poetisch anzuschauen, nie sentimental oder gefühlsduselig, sondern wird durchweg der Vorlage von Goethe wie der Erfolgsoper von Jules Massenet gerecht. Klar, die ist von lyrischer Innigkeit, so, wie das Publikum sie eben 1892 schätzte, aber teilweise auch schon modern bis zur Psychoanalyse, etwa wenn Charlotte singt: "Die Tränen, welche man nicht weint, die nicht den Augen heiß entrinnen, sie fallen tropfenweis' nach innen, da trinkt das Herz sie und versteint." Die aus St. Petersburg stammende Mezzo-Sopranistin Natalya Boeva, die im vergangenen Jahr den renommierten, international wegweisenden ARD-Musikwettwerb im Fach Gesang gewann und an der Theaterakademie August Everding in München studierte, singt diese Charlotte wunderbar zart und zerbrechlich. Was ihr an stimmlichem Volumen und an Charisma noch fehlt, macht sie mit ihrer Ehrlichkeit und ihrem Engagement allemal wett. Sie wird in Augsburg, wo sie seit dieser Spielzeit zum Ensemble gehört, sicher noch häufiger für Aufsehen sorgen, und nicht nur dort.
Szene aus "Werther" in Augsburg, Xavier Moreno | Bildquelle: Jan-Pieter Fuhr
Der in Barcelona geborene Tenor Xavier Moreno war in der Titelrolle besetzt, eine unglaublich fordernde Partie. Er meisterte sie mehr als beachtlich, und das in der nicht gerade idealen Akustik des Ausweichquartiers im Augsburger Martinipark. Generalmusikdirektor Domonkos Heja neigte dazu, das Orchester fast ein wenig zu lautstark hoch zu pegeln, so schwappten zwar Massenets Klang-Wogen beeindruckend intensiv über die Zuschauer, machten es den Sängern allerdings nicht immer leicht. Verdienter Beifall für eine gelungene Produktion. In diesem Fall war nicht nur Goethe gut, sondern alle.
Staatstheater Augsburg, Martinipark
Premiere: 2. Februar 2019
Weitere Termine und Informationen finden Sie auf der Homepage des Staatstheaters Augsburg.
Sendung: "Allegro" am 4. Februar ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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