Jedes Jahr am 1. Januar laden die Wiener Philharmoniker in den prächtig geschmückten Saal des Wiener Musikvereins – und erstmals stand heuer Andris Nelsons beim Neujahrskonzert am Pult. Auf dem Programm: Titel wie "Seid umschlungen, Millionen", "Postillon-Galopp" oder "Liebesgrüße". Prosit Neujahr!
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"Dieses Konzert selbst mitspielen zu können, das hat schon etwas sehr Aufregendes", erzählt Helmut Zehetner. Er ist Zweiter Geiger bei den Wiener Philharmonikern und erinnert sich noch gut, wie er 1981 im Orchester zum ersten Mal mit dabei war. In der Familie des gebürtigen Amstetteners gehörte das Neujahrskonzert zum Neujahrstag selbstverständlich schon immer dazu, ein Ereignis, dass man aus Radio und Fernsehen kannte. Und dann selbst ein Teil des Ereignisses? "Das war ein bisschen die Verwirklichung eines Traumes, den man hat, wenn man die Berufslaufbahn eines Orchestermusikers anstrebt." Und: Wer es bis dahin nicht mitbekommen hatte, dass der Traum des Geigers in Erfüllung gegangen war, der wusste es jetzt. "Dieses Konzert ist auch ein Zeichen, weil viele Menschen auf einmal sehen: Der ist ja Philharmoniker geworden."
Unzählige Kameras fangen heute die Musiker im mit Scheinwerferbatterien grell erleuchteten Großen Musikvereinssaal in Wien ein – hinter den opulenten Blumenaufbauten (rund 30.000 Blumen) und vor dem edlen Blattgold des etwa 2.000 Zuschauer fassenden Raumes.
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Clemens Krauss leitet die ersten Neujahrskonzerte von 1939 – mit zweijähriger Unterbrechung (1946 und 1947) – bis 1954. | Bildquelle: Wiener Philharmoniker
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Nach dem Krieg löst der als unbelastet geltende österreichische Dirigent Josef Krips Clemens Krauss für zwei Jahre ab. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Am 1. Januar 1955 beginnt eine neue Ära, als der Konzertmeister der Wiener Philharmoniker, Willi Boskovsky, die Leitung des Neujahrskonzerts übernimmt. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Willi Boskovsky leitet das Neujahrskonzert 25 Mal – und ist auch bei der ersten Fernsehübertragung 1959 dabei. Hier ein Foto aus dem Jahr 1967 mit einem Blick aufs Orchester vorbei an den Scheinwerfern. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Für den erkrankten Willi Boskovsky beschließen die Wiener Philharmoniker 1980 den designierten Staatsopern-Direktor Lorin Maazel einzuladen. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Lorin Maazel dirigiert sechs Mal hintereinander das Neujahrskonzert bis 1986. Und nochmals in den Jahren 1994, 1996, 1999 und 2005 (hier auf dem Foto). | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Nur ein einziges Neujahrskonzert dirigierte Herbert von Karajan, und zwar im Jahr 1987. Hier probt er mit den Wiener Philharmonikern. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Auf Karajan folgt 1988 der Italiener Claudio Abbado, der das Neujahrskonzert 1991 noch ein zweites Mal dirigiert. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Das Konzert mit Carlos Kleiber 1989 wird von manchen als das beste aller Neujahrskonzerte gewertet. Kleiber kommt 1992 noch ein zweites Mal. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Zubin Mehta dirigiert hier 2015 bereits zum fünften Mal zum Jahreswechsel im Wiener Musikvereinssaal – nach 1990, 1995, 1998 und 2007. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Auch schon sechs Mal eingeladen: Riccardo Muti – nämlich 1993, 1997, 2000, 2004, 2018 und 2021. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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2002 leitet Seiji Ozawa, der im selben Jahr Musikdirektor der Wiener Staatsoper wird, das Neujahrskonzert. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Nikolaus Harnoncourt begeistert mit gewohnter Präzision an den Neujahrstagen 2001 und 2003. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Mit 85 Jahren steht Georges Prêtre 2010 – nach 2008 – zum zweiten Mal am 1. Januar am Pult der Wiener Philharmoniker. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Zum Jahreswechsel 2005 begrüßen die Wiener Philharmoniker Mariss Jansons zum ersten Mal ... | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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... 2016 kommt Jansons – nach 2012 – zum dritten Mal. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Und mit dem 35-jährigen Gustavo Dudamel bekamen die Wiener Philharmoniker 2017 den jüngsten Dirigenten in der Geschichte ihres Neujahrskonzerts. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Andris Nelsons dirigierte das Neujahrskonzert 2020. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Daniel Barenboim nimmt sich bei seinem zweiten Neujahrskonzert (2014 nach 2009) während des "Radetzky-Marsches" Zeit, allen Wiener Philharmonikern persönlich die Hand zu schütteln. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Und 2022 leitet der Argentinier zum dritten Mal das traditionsreiche Konzert. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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2011, gibt Franz Welser-Möst sein Debüt und dirigiert auch 2013 und 2022 das traditionsreiche Konzert. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Er gibt 2019 seinen Einstand am Pult beim Neujahrskonzert: der gebürtige Berliner Christian Thielemann. 2024 dirigiert er zum zweiten Mal. | Bildquelle: Matthias Creutziger
Den Rahmen des Programms bilden üblicherweise Walzer und Polkas des 19. Jahrhunderts aus dem Repertoire der österreichischen Strauß-Familie - vor allem von Johann (Vater), Johann (Sohn) sowie Josef und Eduard Strauß. Aber es werden auch regelmäßig Werke anderer Komponisten, wie Joseph Lanner oder Josef Hellmesberger junior gespielt. Außerdem kommen Stücke dazu, die auf Herkunft und Tradition des jeweils am Pult stehenden Dirigenten anspielen.
Der Ablauf des Konzerts folgt einem immer gleichen Ritual: Nach zwei Hauptteilen kommen die Zugaben. Als zweite immer der Donauwalzer, der dann – auch das ist Tradition – vom Applaus des Publikums unterbrochen wird. Ein Moment übrigens, der für den Geiger Helmut Zehetner immer wieder mit zu den intensivsten gehört, "weil das Publikum mit dem Orchester dann wirklich eins wird. Für mich ist es vergleichbar mit der Neunten von Beethoven. Es ist Ausdruck einer Verbrüderung und immer wieder berührend."
Dabei ist zu Beginn der Geschichte des Neujahrskonzerts gerade die Einstellung der Wiener Philharmoniker zum teils leichtfüßigen Programm durchaus zwiespältig, wie sich aus alten Sitzungsprotokollen des Orchesters entnehmen lässt. Denn der Unterhaltungscharakter der "Tanzmusik" galt unter den an Brahms und Beethoven gewohnten Musikern durchaus als strittig.
Die Anfänge des Traditionskonzerts fallen überdies in düstere Zeiten. Vier Monate nach Beginn des Zweiten Weltkriegs laden die Wiener Philharmoniker an Silvester 1939 zu einem Johann-Strauß-Konzert: leichte Melodien gegen trübe Gedanken. Am Pult steht der von Hitler geförderte Dirigent Clemens Krauss; das eingenommene Geld wird dem Winterhilfswerk der "Kraft-durch-Freude"-NS-Organisation gespendet.
1941 findet das Konzert am Neujahrsmorgen unter dem Titel "Johann Strauß-Konzert Philharmonische Akademie" statt und wird nun jährlich wiederholt. Ab 1946 heißt es offiziell Neujahrskonzert. Die Radio-Übertragung gehört bereits 1941 dazu, 1959 wird dann erstmals im Fernsehen gesendet. Das Dirigat hat damals bereits zum vierten Mal der Konzertmeister des Orchesters, Willi Boskovsky, inne. Zumeist mit der Geige in der Hand leitet er, der auch international gefeierter Solist ist, das Neujahrskonzert 25 Jahre lang – länger als jeder andere. Seine Ära gilt heute als legendär.
Lorin Maazel | Bildquelle: picture-alliance/dpa Just als Helmut Zehetner bei den Wiener Philharmonikern anfängt, ist die Ära Willi Boskovskys zu Ende. Als Boskovsky im Oktober 1979 schwer erkrankt, entscheidet man sich für den international renommierten Dirigenten Lorin Maazel. Er dirigiert das Neujahrskonzert bis 1986. Danach – bis heute – wechseln die Dirigenten jährlich.
Geiger Helmut Zehetner will sich nicht festlegen, ob es für ihn in den letzten 35 Jahren das eine "beste Neujahrskonzert" gab – oder ob er gar einen Lieblingsdirigenten vor sich hatte. Zu verschieden seien die einzelnen Persönlichkeiten und jeder habe, so Zehetner, "auf seine Art etwas Faszinierendes." Ein besonderes Highlights sei gewesen, als Carlos Kleiber 1989 den Taktstock schwang: "Das hatte eine Sensibilität, die mit ihm ganz intensiv verwoben war." Aber auch unter Zubin Mehta habe es Konzerte gegeben, die die Energie der Tanzmusik unglaublich stark ausgedrückt hätten.
Gustavo Dudamel | Bildquelle: Harald Hoffmann Dass sich die Star-Dirigenten nun jährlich abwechseln, hat sicherlich zusätzlich zur Internationalisierung des Neujahrskonzerts in den letzten Jahrzehnten beigetragen. Das lässt sich unschwer an dessen Medienwirksamkeit ablesen: Noch bis in die frühen 1990er-Jahre wurde vom Fernsehen nur der zweite Teil des Konzerts übertragen. Heute gibt es für die etwa 50 Millionen Zuschauer aus 92 Ländern die volle Packung – mit teils ausuferndem Vorprogramm.
Der in Venezuela geborene, erst 35-jährige Maestro Gustavo Dudamel war am 1. Januar 2017 der bislang jüngste Dirigent in der Geschichte des Neujahrskonzerts. Geiger Helmut Zehetner stellt amüsiert fest, dass Dudamel just in dem Jahr geboren wurde, in dem er sein erstes Neujahrskonzert spielte.
Seit 1959 wird das Neujahrskonzert vom ORF live in alle Welt übertragen – heuer in über 90 Länder, und 50 Millionen Fernsehzuschauer sind an den Bildschirmen mit dabei. Weltweit schließen sich jedes Jahr mehr als 300 Radiostationen dem musikalischen Neujahrsgruß an. Die Fernsehübertragung untermalen teilweise thematisch zugehörige Bilder oder live getanzte Balletteinlagen aus dem Schloss Schönbrunn. 2008 wurde sogar erstmals live im Goldenen Saal getanzt. Die Philharmoniker treten 2017 anlässlich ihres 175-jährigen Jubiläums beim Neujahrskonzert in neuer Konzertkleidung auf, die von Vivienne Westwood und Andreas Kronthaler entworfen wurde.