Er machte etwas salonfähig, das im Jazz zunächst exotisch wirkte: auf einem Blechblas-Instrument mehrstimmig zu spielen. Auf diese Weise konnte der Posaunist Albert Mangelsdorff ab den 1970er-Jahren auch abendfüllende Solokonzerte geben – und war nicht mehr darauf angewiesen, eine Band zusammenzustellen. Aber nicht nur durch diese Spielweise hakte sich Albert Mangelsdorff im internationalen Gedächtnis fest. Schon früh war dieser 1928 in Frankfurt am Main geborene Musiker die Galionsfigur des Jazz aus der Bundesrepublik Deutschland. 2005 starb Albert Mangelsdorff im Alter von 76 Jahren.
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Albert Mangelsdorff, das war ein ungemein freundlicher Mann mit leiser Stimme und weichem hessischem Zungenschlag. Doch seine Töne waren stets wie Statements. So viel Klarheit, so viel Kontur wie er brachten viele Jahre lang nur die wenigsten auf die Bühne. Sein Spiel kannte keine Klischees, keine Harmlosigkeiten. Mangelsdorff war ein Musiker, dem es auf Substanz ankam. Und der sie stets suchte und auslebte.
Noch während der Zeit des Nationalsozialismus hatte Albert Mangelsdorff durch seinen älteren Bruder – den Saxophonisten Emil Mangelsdorff – erstmals Jazz gehört. Nach 1945 putzte er bei den amerikanischen Streitkräften Büros und fasste an Abenden allmählich Fuß in der Frankfurter Jazz-Szene. Zunächst spielte er Gitarre – nachdem er als Jugendlicher vorerst bei einem Onkel Geige gelernt hatte. Und erst in den frühen 1950er Jahren wechselte er endgültig zur Posaune. Er spielte in der Band des österreichischen (in Deutschland lebenden) Saxophonisten Hans Koller, in Ensembles des Hessischen Rundfunks.
Albert Mangelsdorff | Bildquelle: Erwin Elsner-dpa 1961 gründete Albert Mangelsdorff schließlich sein eigenes Quintett – mit den beiden Saxophonisten Günter Kronberg und Heinz Sauer, dem Bassisten Günter Lenz und dem Schlagzeuger Ralf Hübner. 1963 nahm er mit diesen Kollegen die LP "Tension!" auf, die vor allem in einer Hinsicht ein Ausrufezeichen setzte: Es war Musik, die sich vom US-amerikanischen Jazz emanzipierte. Albert Mangelsdorff schrieb damals für die Hülle des Albums einen Text, in dem folgende Sätze standen: "Jazz erhebt den Anspruch, Kunst zu sein. Jede Kunst ist ein Ausdruck der Zeit, in der sie entsteht, sie spiegelt die Umwelt, in der wir leben. Deshalb sollte ein europäischer Jazzmusiker nicht von sich erwarten, zu spielen wie ein schwarzer Musiker in New York oder Chicago. Er sollte es nicht versuchen und man sollte das auch nicht von ihm erwarten, denn seine Probleme sind andere, und sein Leben ist anderen Bedingungen unterworfen."
Dass Jazz aus Europa einen eigenen Klang brauche – darauf hatten ihn ausgerechnet amerikanische Musiker gebracht – zuerst in Gesprächen am Rande seines ersten Besuchs beim berühmten Festival in Newport im amerikanischen Bundesstaat Rhode Island 1958. Sie fanden Musiker uninteressant, die amerikanische Vorbilder kopierten. Albert Mangelsdorff nahm sich das zu Herzen, andere Kollegen folgten ihm, und es entstand eine bundesdeutsche Variante des Jazz, die besonders klar und kraftvoll klang. Mangelsdorff war ihr Vorreiter, und Kollegen von Wolfgang Dauner über Volker Kriegel und Wolfgang Haffner bis hin zu Michael Wollny folgten auf jeweils individuelle Art den Impulsen, die er einst gesetzt hatte.
Im Laufe der Jahrzehnte bis zu seinem Tod im Jahr 2005 blieb Albert Mangelsdorff der vermutlich international berühmteste Jazzmusiker aus Deutschland. Alben wie "Never Let It End" von 1970 und "Diggin‘ – Live In Tokyo" von 1971 zeigen sein damaliges Quartett in Höchstform und enthalten Musik von ungeheurem Drive – mit Improvisationen von aufbegehrend-wildem Ausdrucksdrang. Nur ein Jahr später begann Albert Mangelsdorff, öffentlich Solo-Konzerte zu geben – zum ersten Mal bei einem Jazzfestival aus Anlass der Olympischen Spiele in München. Das war der Anfang einer musikalischen Praxis, die viele introvertierte Stücke von hoher Intensität und eigener Magie abwarf. Alben mit dem Solo-Künstler Mangelsdorff trugen Titel wie "Tromboneliness" (etwa: Posaunsamkeit) und "Trombirds" (vielleicht: Zugposaunenvögel). Die spezielle Spieltechnik, mit der Mangelsdorff Mehrstimmigkeit erzielte, beruht darauf, dass zu einem geblasenen Ton ein weiterer, möglichst harmonisch verwandter Ton ins Instrument hinein gesummt wird – sodass durch sogenannte Differenztonbildung ein dritter Ton entsteht.
Mangelsdorff selbst hat darauf hingewiesen, dass er diese Technik nicht erfunden habe – sondern dass es sie etwa im Horn-Concertino in e-Moll Carl Maria von Webers aus dem Jahr 1815 bereits in einer Kadenz gibt. "Multiphonics" nennt man solche Spielweisen heute generell. Es gibt sie, mit anderer Technik, auch bei Saxophonen und Flöten. In der notierten Avantgardemusik hat der Komponist Luciano Berio bereits 1958 ein Stück mit Multiphonics geschrieben. Heutige Jazz-Instrumentalisten beziehen solche Techniken wie selbstverständlich ein – junge Posaunisten wie der Deutsche Nils Wogram benutzen sie als ein Ausdrucksmittel von vielen.
Albert Mangelsdorff und Band in den 70er Jahren | Bildquelle: picture-alliance/dpa Am 5. September 2018 wäre dieser große Musiker 90 Jahre alt geworden. BR-Klassik erinnert an dem Abend selbst mit einer Jazztime an ihn, in der man Mangelsdorff auch ausführlich sprechen hört. Diverse Auszüge aus einem ausführlichen Interview, das 1998, wenige Wochen vor Mangelsdorffs 70. Geburtstag, entstand, sind in der Sendung zu hören – darunter auch einige, die bisher unveröffentlicht waren. Albert Mangelsdorff schildert darin unter anderem, wie er sich als Putzmann in Büros der amerikanischen Streitkräfte Gelächter einfing, als er beim zufälligen Hören eines Stücks von Tommy Dorsey zu einem amerikanischen Soldaten sagte, dass er gerne solch eine Musik machen würde. Dieser junge "Kraut", der da putzt, ein Jazzer? Nein, das wollte in die Köpfe der amerikanischen Vorgesetzten Mangelsdorffs damals nicht hinein. Er bewies später mindestens sich selbst, das "Kraut" und Jazz eine durchaus starke Verbindung sein können.
In einer weiteren Sendung eine Woche später sind – in Live-Mitschnitten des BR - besonders starke Duo-Aufnahmen Mangelsdorffs zu hören: Eine davon entstand am 20. Juni 1980: Albert Mangelsdorff trat mit dem deutschen Pianisten Wolfgang Dauner bei dem Festival Jazz- Ost-West in Nürnberg auf. Das andere Gastspiel fand zwei Jahre später beim selben Festival statt: am 18. Juni 1982. Das war eine Duo-Begegnung, in der zwei tiefe Instrumente aufeinandertrafen: Posaune und Kontrabass. Den Bass spielte der Ungar Aladár Pege (1939-2006), ein an der Franz-Liszt-Akademie in Budapest klassisch ausgebildeter Bassist mit hervorragender Bogentechnik, der von Fans auch der "Paganini des Basses" genannt wurde und dem Sue Mingus, die Witwe des amerikanischen Kontrabass-Giganten Charles Mingus, ein Instrument ihres Mannes vermacht hatte.
Die Erinnerung an Albert Mangelsdorff ist in der deutschen Jazz-Szene sehr lebendig. Alle zwei Jahre wird der "Albert-Mangelsdorff-Preis", auch genannt "Deutscher Jazzpreis" der Union Deutscher Jazzmusiker vergeben – und zwar stets während des renommierten Jazzfests Berlin, dessen künstlerischer Leiter Albert Mangelsdorff von 1995 bis 2000 war. Am 22. Oktober widmet das älteste Jazzfestival der Welt, das 1953 gegründete Deutsche Jazzfestival Frankfurt, Albert Mangesldorff den Eröffnungsabend des Festivals im Großen Saal der Alten Oper: "Hut ab! – Albert Mangelsdorff@90". Der Titel spielt auf denjenigen eines späten Stücks Albert Mangelsdorffs an: "Danke, Hut ab!". Das widmete der stets bescheidene Weltstar einst denjenigen, denen er sich besonders verpflichtet fühlte – seinen Hörern und den Club-Betreibern, die ihm stets die Treue hielten. Ein Musiker, der in vielerlei Hinsicht als Vorbild dienen kann.
5. September 2018, 23:05 Uhr: "Jazztime": Jazz and beyond
Ein bundesdeutscher Jazz-Weltstar: Erinnerungen an den großen Posaunisten Albert Mangelsdorff, der am 5. September 2018 neunzig Jahre alt geworden wäre.
Moderation und Auswahl: Roland Spiegel
12. September 2018, 23:05 Uhr: "Jazztime": Jazz aus Nürnberg
Live-Mitschnitte Galionsfigur des deutschen Jazz in Aufnahmen aus Nürnberg: Albert Mangelsdorff, im Duo mit dem ungarischen Bassisten Aladar Pege sowie dem Pianisten Wolfgang Dauner, live beim Festival "Jazz Ost-West" Nürnberg, in den Jahren 1980 und 1982.
Moderation und Auswahl: Roland Spiegel