Ein wohliger Schauer läuft uns über den Rücken, die Härchen auf der Haut stellen sich auf. Berührt uns ein Musikstück emotional, bekommen wir oft beim Hören eine Gänsehaut. Womit hängt das zusammen? Bei welcher Musik passiert es besonders häufig? Und erleben das alle Menschen gleich?
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Im Radio läuft das Lieblingsstück, wir sitzen im Konzertsaal oder sogar selbst auf der Bühne - und bekommen plötzlich eine Gänsehaut. Warum ist das so? Eigentlich ist die Gänsehaut ja nur ein Kälteschutzreflex. Und zwar ein uralter. Vor rund 350.000 Jahren waren die Menschen noch viel stärker behaart als heute, und die Gänsehaut hatte eine wichtige Funktion: Wärmen.
"Wenn sich die Haare aufstellen, wird weniger Wärme vom Wind und der umgebenden Luft abtransportiert", erklärt Eckart Altenmüller, Hirnforscher und Professor für Musikphysiologie und Musikermedizin in Hannover. Das wärme dann wie ein zusätzlicher Pelzmantel. Wenn uns kalt ist, bekommen wir auch heute noch eine Gänsehaut. Früher funktionierte das noch etwas anders. "Wir vermuten heute, dass diese Gänsehautreflexe ursprünglich dazu gedient haben, innere Wärme zu erzeugen und vor allem eben Fernwärme auf akustische Reize hin", erklärt Eckart Altenmüller. Einfaches Beispiel: Wenn eine Mutter ihr Baby ins Gras gelegt hat, um beispielsweise Beeren zu pflücken, dann fing das Baby an zu frieren. Die Mutter rief ihm dann zu, und durch den akustischen Reiz bekam das Baby eine Gänsehaut - und wurde gewärmt.
In der Musik sind es gerade die starken Emotionen, die dieses Haarerwärmen erzeugen.
Diese akustische Domäne, die Reaktion auf Klänge und Stimmen, hat sich über die Jahrtausende zurückgebildet, so Altenmüller. Lediglich bei der Musik habe sich der Reflex erhalten. "Und da sind es dann gerade die starken Emotionen, die dieses innere Herzerwärmen bzw. Haarerwärmen miterzeugen."
Beim Verarbeiten von Musik läuft unser Gehirn auf Hochtouren - auch das limbische System, in dem unsere Emotionen gespeichert sind. | Bildquelle: colourbox /BR Montage Berührt uns eine Musik also emotional, bekommen wir oft eine Gänsehaut. Das hat viel mit Hörerwartungen zu tun. "Der einfachste Mechanismus ist, dass wir immer Erwartungen ausbilden, wie es jetzt weitergeht", erklärt Reinhard Kopiez, Professor für Musikpsychologie. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn wir den Beginn einer Melodie hören und innerlich vorausahnen, wie die Phrase weitergeführt wird. Wird die Erwartung erfüllt, löst das bei uns positive Schübe aus: "Das ist dann für uns eine Belohnung, weil es bestätigt, was wir vermutet haben."
Durch das Erfüllen von Erwartungen wird bei uns das Glückshormon Dopamin ausgeschüttet. Aus der Neurobiologie wissen wir, dass sich unser Gehirn auf solch einen Gänsehautmoment vorbereitet - und zwar schon dann, wenn wir erst ahnen, dass gleich eine aufregende Stelle in der Musik kommt.
Eckart Altenmüller ist Professor für Musikphysiologie und Musikermedizin an der Musikhochschule in Hannover. | Bildquelle: picture-alliance/dpa Das beginnt im Hirnstamm, im sogenannten Limbischen System, das quasi unser Emotionszentrum ist. "Dort wird dann eine kleine Menge an Dopamin in der sogenannten Vierhügelregion, in dem Tegmentum, ausgeschüttet", erklärt Eckart Altenmüller. "Und dieses Dopamin wandert dann etwa acht Zentimeter nach vorne im Hirnstamm - auf den Accumbens-Kern zu. Und der schüttet dann genau im Moment der Gänsehaut, ganz viel Dopamin aus." Dieses wird dann an das gesamte Stirnhirn weitergegeben und erzeugt in uns Glücksgefühle. "Das ist auch der Grund, warum manche Leute süchtig nach bestimmten Musikstücken werden", sagt Altenmüller. "Auch manche Musiker werden süchtig nach dem Spielen."
Im Moment der Gänsehaut steigt die Herz- und Atemfrequenz an. Die feinen Piloarektormuskeln in der Haut werden aktiv, und die Härchen stellen sich auf. Entscheidend ist dabei vor allem, wie vertraut der Hörer mit der Musik ist. Verbindet er mit einem Stück persönliche Erinnerungen oder ist zumindest mit dem Musikgenre vertraut, erhöht dies die Wahrscheinlichkeit auf eine Gänsehaut. Dabei spielen mehrere Filterprozesse eine Rolle: "Wir brauchen eine Vorliebe für diese Musik", erklärt Reinhard Kopiez. "Das ist wie mit einer Tür, die schon mal ein bisschen geöffnet ist." Je stärker man also mit einer Musikrichtung vertraut ist, umso besser. "Da tritt eine Gänsehautreaktion sehr viel wahrscheinlich auf, als wenn ein Heavy-Metal-Hörer mit Mozarts Requiem konfrontiert wird."
Der Überraschungseffekt ist quasi die Abkürzung zur Gänsehaut.
"Aber auch der Überraschungseffekt kann eine Rolle spielen", sagt Reinhard Kopiez. "Das ist quasi die Abkürzung zur Gänsehaut." Eine solche Überraschung kann sein, wenn es in der Musik beispielsweise ohne jede Vorwarnung zu einem plötzlichen Lautstärkeanstieg kommt. "Das kann ein Chor sein, der 'Kreuzige ihn!' ruft, oder wenn bei Strawinsky im 'Sacre' plötzlich das volle Orchester einsetzt", so Kopiez. Man spricht dann von einer sogenannten 'startle response', einer Schreckreaktion. "Auch hier reagieren wir beispielsweise mit einer Gänsehaut."
Musik, die wir sehr gut kennen und die uns emotional berührt, löst oft Gänsehautreaktionen aus. | Bildquelle: colourbox.com So gesehen kann es auch interessant sein, wenn ein Komponist mal ein wenig von der Hörerwartung abweicht. Allerdings reagieren nicht alle Menschen auf Musik mit Gänsehaut. "Etwa 30 Prozent kennen das Phänomen gar nicht", sagt Eckart Altenmüller. "Das sind häufig Menschen, die stärker kognitiv organisiert sind und weniger ihre Emotionen bewerten - häufig Menschen mit eher wissenschaftlichen Berufen." Die Empfindsamkeit für eine Gänsehaut beim Musikerleben scheint also auch genetisch mitveranlagt zu sein. Häufig findet sie sich bei Menschen, die in sozialen Berufen tätig sind.
Und: Es ist auch ein Unterschied, ob man zuhört oder selbst musiziert. "Wenn wir Musik hören, ist die Gänsehaut eindeutig häufiger." Altenmüller vermutet, dass das daran liegt, dass wir beim aktiven Musizieren meist stark abgelenkt sind und uns auf die richtigen Noten konzentrieren müssen. "Möglicherweise bemerken wir die Gänsehäute dann gar nicht." An der Gänsehaut fasziniert den Neurologen eines ganz besonders: "Sie ist ein relativ flüchtiges Phänomen." Die Gänsehaut lässt sich nicht planen. Oft haben wir gerade dann besonders starke emotionale Erlebnisse, wenn wir sie am wenigsten erwarten, findet Altenmüller: "Die Gänsehaut führt ein ästhetisches Eigenleben."
20. Oktober - 22. Dezember 2020
jeweils dienstags um 8.45 Uhr (Allegro) und um 17.40 Uhr (Leporello)
Musikerinnen und Musiker von Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks sowie des Münchner Rundfunkorchesters stellen ihre Lieblingsstellen in der Musik vor.
Zum Nachhören:
Michael Friedrich, Violine 1, BRSO - Richard Wagner: Walküre
Andrew Lepri Meyer, Tenor, BR-Chor - Giuseppe Verdi: Messa da Requiem, Lacrimosa
Christiane Dohn, Solo-Flöte, Münchner Rundfunkorchester - Georges Bizet: Carmen, Vorspiel zum 3. Akt
Bettina Faiss, Klarinette, BRSO - Igor Strawinsky: Sacre du Printemps
Mareike Braun, BR-Chor - J.S.Bach: Johannes-Passion, Schulusschoral
Celina Bäumer, Violine 2, BRSO - Mahler: Sinfonie Nr. 2, Urlicht
Alexandre Vay, Solo-Cellist, Münchner Rundfunkorchester - Verdi: Don Carlos, Ella giammai m'amò
Carsten Duffin, Hornist, BRSO - Strawinsky: Feuervogel
Michael Mantaj, Bass, BR-Chor - Brahms: Ein deutsches Requiem, 4. Satz
Sendung: "Allegro" am 19. Oktober 2020 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK