Das Erhalten von Wissen, von Erfahrungen und auch Gefühlen ist zentral für unser Gehirn und unser Sein. Wie Musikhören und Musikmachen unser Gedächtnis trainiert, und warum Musik selbst schon eine Gedächtnis-Kunst ist, erläutert der Hirnforscher Eckart Altenmüller im BR-KLASSIK-Interview.
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BR-KLASSIK: Weiß man eigentlich, wie das Gedächtnis beim Musikmachen funktioniert?
Eckart Altenmüller: Man weiß sehr viel darüber. Zunächst einmal ist Musik ja eigentlich Gedächtnis-Kunst, denn Musik entfaltet sich in der Zeit. Um überhaupt eine Melodie verstehen und genießen zu können, muss ich am Anfang den Beginn der Melodie und den ganzen Verlauf in meinem Gedächtnis behalten. Wenn Sie Musik hören, dann trainieren Sie immer automatisch auch Ihr musikalisches Gedächtnis. Der zweite Punkt ist: wenn Worte mit Musik unterlegt werden, dass dann diese Worte sehr viel deutlicher im Gedächtnis bleiben. Das nützen wir bei Kirchenliedern. Das haben schon die frühen Dichter gemacht. Bei der Odyssee etwa, die haben den Text ja nicht vorgelesen, sondern ihn gesungen - mit Tonhöhen.
BR-KLASSIK: Würde das jetzt auch heißen, wenn ich im Hintergrund Musik laufen habe, während ich etwas lese, dass ich mir das besser merken kann?
Eckart Altenmüller: Sie können wahrscheinlich besser Mathematik lösen. Aber Texte im Gedächtnis zu behalten, während man Musik hört - das ist eigentlich ungünstig. Dann würden sich nämlich die beiden Ströme - der auditive Strom der Musik und der innere Strom des Lesens - nicht ergänzen, sondern gegenseitig stören.
BR-KLASSIK: Soweit ich weiß, ist Musik machen etwas, was auch an vielen Orten des Gehirns stattfindet. Ist deshalb Musik von Vorteil für das Gedächtnis?
Eckart Altenmüller forscht auf dem Gebiet der Neurophysiologie und Neuropsychologie von Musikern. | Bildquelle: picture-alliance/dpa Eckart Altenmüller: In jedem Fall. Es ist so, dass das Musizieren vor allem assoziative Netzwerke im Gehirn anlegt. Das heißt, wenn ich ein Musikstück höre dann kann ich gleichzeitig meine emotionalen Erinnerungen dafür aufrufen. Gleichzeitig kann ich auch den Musiker vor meinem inneren Auge sehen. Gleichzeitig werden meine eigenen Finger oder Lippen entsprechend angesprochen.
Gleichzeitig erzeugt Musikhören immer auch Erwartungen und damit werden unsere Planungszentren im Gehirn involviert. Und auf die Art und Weise ist eigentlich von beiden Hirnhälften das gesamte Großhirn beim Musikhören schon beschäftigt. Und diese assoziativen Verknüpfungen, die machen sich im Gehirn dann auch mit einer dichteren Netzwerk-Bildung bemerkbar, und die kann dann auch für andere Gedächtnisinhalte benützt werden.
BR-KLASSIK: Ist das eigentlich noch ausgeprägter bei Menschen, die nicht nur Musik hören, sondern sie auch selber machen?
Eckart Altenmüller: Menschen, die Musik machen haben auf jeden Fall ein besseres Sprachgedächtnis. Und das führt man darauf zurück, dass sie gelernt haben die Klänge in ihrem auditiven Gedächtnis besser einzuspeichern - und auch besser unterscheiden zu können. Was auch bei Musikern bekannt ist, ist, dass sie vor allem visuelle Formen besser im Gedächtnis behalten. Das gilt aber nur für klassische Musiker, die Noten lesen. Und das führt man auf den Übungseffekt zurück: Durch komplizierten Notenschriften auch visuellen Muster besser erkennen zu können und behalten zu können.
BR-KLASSIK: Kennen Sie Techniken, um Musik tatsächlich auch auswendig zu lernen und sie zu spielen?
Eckart Altenmüller: Das wird ganz gezielt unterrichtet an Musikschulen und auch an der Musikhochschule. Und zwar ist es eben wichtig, dass man das Musikstück in verschiedenen Dimensionen verankert. Zunächst ist es wichtig, es innerlich zu hören. Wir trainieren unsere Studierenden zum Beispiel im sogenannten mentalen Training. Das heißt, sie lesen Musik und hören sie dann vor ihrem inneren Ohr. Gleichzeitig sollen sie sich ihre Hand- oder Lippenbewegungen dabei vorstellen. Gleichzeitig sollen sie innerlich spüren, was vorgeht. Und dann sollen sie sich wie in einem inneren Film auch sehen, während sie dieses Stück spielen, obwohl sie einfach nur ganz ruhig im einem Stuhl sitzen und diese Noten vor sich liegen haben. Und dann ist es eben auch noch sehr gut, wenn man die Struktur eines Musikstücks gut kennt. Dann kann man nämlich im so genannten expliziten Gedächtnis auch die Struktur mit behalten.
BR-KLASSIK: Was würden Sie denn sagen, ist an unserem Alltag heute schädlich für unsere Gedächtnisfunktionen?
Eckart Altenmüller: Ich glaube, dass wir in der Zwischenzeit vielleicht unser Gedächtnis zu wenig üben. Und das liegt einfach daran, dass wir alle Fakten sofort verfügbar haben - durch die Medien. Das ist ein unglaublicher Schatz. Ich gebe zu, dass es toll ist, wenn einem im Moment etwa gerade nicht einfällt, wann der Augsburger Religionsfrieden war. Ich google - und weiß innerhalb von 20 Sekunden: Es war 1555. Aber das ist gerade in der jüngeren Generation natürlich auch bedenklich, wenn man die Fakten nicht mehr im Gedächtnis behält. Es ist eben so, dass wir vor allem in der frühen Kindheit und Jugend die Strukturen im Gehirn aufbauen, die es uns ermöglichen, einen irgendwie gearteten Gedächtnisinhalt zu behalten und mit ihm zu arbeiten. Und wenn ich diese Strukturen nie forme, wenn ich nie als Kind und Jugendlicher die Gelegenheit habe, etwas auswendig zu lernen, dann werde ich eben später große Schwierigkeiten haben, diese Dinge im Gedächtnis zu behalten.
BR-KLASSIK: Man sagt ja auch: Im Alter wird man vergesslich. Muss man, je älter man wird, mehr tun für das Gedächtnis?
Eckart Altenmüller: Unser physiologisches Alter geht schon auch damit einher, dass bestimmte Gedächtnisfunktionen schlechter werden. Das liegt auch daran, dass wir die neu eingespeicherten Gedächtnisse nicht mehr so stark emotional bewerten. Was wir zum ersten Mal erleben, das behalten wir. Wenn wir zum hundertsten Mal ein bestimmtes Konzert im Herkulessaal hören - dann werde ich das nicht mehr in meinem Gedächtnis einprägen. So dass alte Menschen oft Schwierigkeiten haben in der emotionalen Bewertung der Gedächtnisinhalte und dann sie weniger gut behalten. Und da ist es gut, dass man sich seine emotionale Frische und Neugierde bewahrt. Das kann man üben. Der zweite Punkt ist, dass ein Teil der neuronalen Funktionen einfach langsamer oder auch schlechter werden. Dass Neurone zugrunde gehen, das ist ein physiologischer Vorgang. Aber auch hier kann man üben: Gedichte auswendig lernen oder sich bestimmte Musikstücke innerlich vorsummen oder in einem Chor mitsingen. Diesen Prozess kann man aufhalten, wenn nicht sogar zum Teil umkehren.
Die Fragen stellte Elgin Heuerding für BR-KLASSIK.
Sendung: "Leporello" am 13. Oktober 2017, ab 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK