BR-KLASSIK

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Bayreuther Festspiele

24. Juli - 27. August 2024

Erlebnis Bayreuth: Der "Ring" von Harry Kupfer Ein Wagnerküken wird flügge

Richard Wagner war lange ein rotes Tuch für sie. Dann kam BR-KLASSIK-Moderatorin Sylvia Schreiber Anfang der 90er Jahre zu den Bayreuther Festspielen. Seit 1988 war dort die "Ring"-Inszenierung von Regisseur Harry Kupfer zu sehen, dirigiert von Daniel Barenboim. Für Sylvia Schreiber im Wortsinn: eine Erleuchtung! Und der Beginn einer Liebesgeschichte, die bis heute anhält.

Szenenbild der Inszenierung von Harry Kupfer bei den Bayreuther Festspielen 1991  | Bildquelle: Unitel

Bildquelle: Unitel

Mit Richard Wagner stand ich auf Kriegsfuß. Die Musik: Zu getrieben, zu schwelgerisch, zu verwoben. Der Typ: zu antisemitisch, zu versessen, zu egozentrisch. Zu allem Übel hatte sich Wagner post mortem auch noch ein bürgerliches und merkwürdig masochistisches Publikum herangezogen, das ihm, einer devoten Gemeinde gleich, überall hin folgte. Sogar in das ungemütliche Clubhaus auf dem grünen Hügel. So meine Meinung damals. Ohne Wagner hat man ein Bandscheibenproblem weniger im Leben, dachte ich. Bis ...

Unverhoffter Kartensegen

... dann dieses Opern-Karten-Quartett kam. Ein Geschenk ("... du interessierst dich doch für Musik")! Für Wagners "Ring" mit Daniel Barenboim in der Inszenierung von Harry Kupfer. Barenboim ist jüdisch, Kupfer ein unbürgerlicher DDR-Bürger. Soviel zu meinen Wagner-Klischees. Gut, dachte ich mir, hast im Grunde eine liberale Erziehung genossen, lass dich auf das Ring-Spektakel ein, das da auf der Bühne im Nebel beginnt.

Start in den Marathon: verhaltener Beginn, dann Lichtspektakel

Zunächst: beige-gewandete Figuren in Grüppchen, die sich dann schweigend aus dem Staub machen, bevor die Musik beginnt. Ein fast schon selbstironisches Motto für den Start in einen fast 16-stündigen Klangmarathon, der ganz bescheiden losgeht.

Nur minimal über der Hörbarkeitsschwelle brummen die ersten Töne des "Rheingold"-Vorspiels, mit extra tief gestimmten Kontrabässen, mit samtigen Hörnerdreiklängen, die man gehörig in den Sand setzen könnte. Nicht aber hier bei diesem Orchester. Es ist wie das Knurren eines erwachenden Zerberus. Barenboim hat jeden Ton verinnerlicht und weiß das auszustrahlen, zieht mit, wie ein Leitwolf das Rudel.

Ebenso sachte, wie das Vorspiel beginnt, "werde es auch Licht": Eine grüne Leuchtkugel wirft wie fahles Nordlicht ihren Schein auf die ansonsten leere, schwarze Bühne. Und je weiter das Vorspiel mit seinen insgesamt 136 Takten fortschreitet, desto mehr formieren sich die neongrünen Leuchtstoffröhren zu geometrischen Formen und zeigen schließlich fluchtpunktperspektivisch einen schnurgeraden Weg auf. Harry Kupfer nimmt mich sofort mit in diesem ersten Weg-Bild.

Leuchtende Wegweiser durch das Beziehungswirrwarr

Mal ist es ein verschlungener, mal ein verschlingender Weg durch eine der vertracktesten Familiengeschichten überhaupt. Im gesamten Kupfer-"Ring" spielt dabei diese linienhafte Lichtregie eine fantastische Rolle: Was im "Rheingold" grünt, das leuchtet in der "Walküre" in verschiedenen Rot-Tönen. Im "Siegfried" dominiert ein bläuliches Grau und in der "Götterdämmerung" schließlich düsteres Violett. Doch nie wird daraus ein "Malen nach Zahlen". Kupfer gelingt das Kunststück, Wagners Klangfarben mit diesen visuellen Farbenspielen zu ergänzen.

Überhaupt ist "Ergänzen" ein gutes Motto für diesen "Ring". Denn das zieht sich über 16 Stunden lang durch: Kupfer ergänzt mit großer Sensibilität, was Wagner musikalisch vorgibt. Selbst mir, als Wagnergrünschnabel, erschloss sich das Wirrwarr in den Stammbäumen der Helden, die sich um die Weltesche tummeln. Keine verlotterten Fell-Kostüme wie aus einem Wikingerfilm, keine pantomimischen Gesten, keine Schlachtszenen, kein Gangsterboss Wotan. Nur Andeutungen.

Kupfer nimmt sich zurück und gewinnt!

Kupfer hätte richtig fett auftragen können. Doch er nimmt sich klug zurück: Ein Krater im Bühnenboden, große Rechtecke mit angedeuteten Bildern skizzieren verschiedene Räume, eine bronzefarbene verschlungene Weltesche, die aussieht wie ein gigantischer Fussballpokal – das alles reicht dem Regisseur. Und das kann ihm auch reichen, weil er so tief in Wagners Text eintaucht.

Bei Kupfer wird sogar der zähe erste Akt der "Walküre", wenn Sieglinde und Siegmund einander als Geschwister erkennen (dauert gefühlte 20 Stunden) und dann vor lauter Glück ein Kind zeugen (dauert maximal zwei Minuten), zu einer Szene, die Gänsehaut bereitet. Und das nicht erst, wenn "Winterstürme dem Wonnemond wichen". Was für ein inniges Gefühl der Liebe beschreibt Wagner, erleben die Helden, durchleben die Sängerinnen und Sänger! Hier wird die Hand des Geliebten nicht gehalten, als wäre es ein Schinkenbrot. Hier lodert die zum Scheitern verurteilte Liebe in jedem Augenaufschlag von Sieglinde und Siegmund. Und es schmerzt so wunderschön!

Sänger ohne Sockel

Kupfer macht die Opernhelden zu vertrauten Menschen, die ihren Weg zu gehen, ihr Päckchen zu tragen haben, wie ich im Publikum. Die Sängerinnen und Sänger folgen ihm dabei mit Haut und Haar und Stimme! Und mutieren trotzdem nicht zu Erfüllungsgehilfen des Regisseurs, sondern erfüllen Wagners Text – der Spitzenbesetzung sei Dank. Ein verbales Wischiwaschi ließe sich ohnehin nicht mit dieser Requisitenarmut vereinbaren. Dann hätte ich spätestens bei Wotans fadenscheinigen Argumentationen mit Fricka im 2. Akt der "Walküre" auf der Schulter des Sitznachbarn geschlummert.

"Siegfried" auf der Stuhlkante

Stattdessen hocke ich auch im "Siegfried" noch auf der vordersten Stuhlkante und verstehe, schier unfassbar, jedes Wort, wenn der seelisch verkorkste Zwerg Mime mit Siegfried diskutiert. Sehe, wie Mime ihm auf den Pelz rückt, sich anbiedert, dabei die Finger knetet, den Mund bestialisch verzieht. Und Siegfried, das Dummerle, hat nur Spaß im Kopf, fühlt keinerlei Mitleid mit seinem Ziehvater, schmiedet Nothung in einem rot erleuchteten, riesigen Rad. Auch die beiden sind keine Wesen aus dem All oder aus einer mythischen Vergangenheit, hier wird ein zutiefst unangenehmer, menschlicher Konflikt ausgetragen: Man möchte aufstehen, man kann es kaum ertragen.

Dabei bleiben lohnt sich!

Bis heute ... Wer jedoch bis zum Trauermarsch aus der "Götterdämmerung" dabei ist, der kann hier nochmal volle Pulle das Orchester auskosten, das Daniel Barenboim mit großer Lust auf krasse Dynamik durch den Ring treibt. Und da schließt sich dann auch der Kreis zur Lichtregie: vor allem durch die Blechbläser. Wie Schlachtermesser schneiden Posaunen, Tuben und Hörner aus dem Graben ins Ohr – eine akustische Fortführung der schnurgeraden Neonröhren auf der Bühne. Das Ende? – Verhallt im Raum ... und ist doch noch lange nicht das Ende der Geschichte. Im Gegenteil: Es ist der Anfang einer Liebesgeschichte, die ein Wagnerküken wie mich hat flügge werden lassen. Und es bleibt zu hoffen, dass der Weg den das erste Bild in diesem "Rheingold" weist, dieser erleuchtete, grüne Weg, ein Leben lang dauert.

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