Bayreuther Festspiele
24. Juli - 27. August 2024
Ein Skandal, ein Skandal! Ohne den geht es mittlerweile gar nicht mehr bei den Bayreuther Festspielen. Das Unerhörte und das Ungehörige gehören quasi zum Konzept auf dem Grünen Hügel zum Leidwesen der einen und zur großen Unterhaltung der anderen im Wagner-Publikum. Lagerbildung ist noch immer unvermeidbar, wenn Traditionalisten auf Erneuerer stoßen und wenn aus dem Ausspruch des Urvaters Richard Wagner "Kinder, schafft Neues!" für so manchen doch zu Abwegiges entsteht.
Bildquelle: © Unitel
Der Urknall für die rasante Entwicklung des Erneuerungsprozesses ereignete sich in den 70er-Jahren, als der 31-jährige Franzose Patrice Chéreau von Festivalleiter Wolfgang Wagner mit der Neuinszenierung des "Ring des Nibelungen" für die Festspiele 1976 beauftragt wurde, genau einhundert Jahre nach der Uraufführung. Nie vor ihm war ein so junger, überhaupt ein nicht deutscher Regisseur mit dieser Aufgabe betraut worden, und noch dazu hatte der als Theater-Wunderkind gefeierte Franzose kaum Opernerfahrung, sondern kam vom Film und der Schauspielbühne. Chéreau ging davon aus, dass Richard Wagner die sozialen und politischen Zustände seiner von Revolution geprägten Zeit im Gewand des Mythos wiederspiegeln wollte, und darum wurde bei ihm aus der Götterwelt die kapitalistische westliche Welt im 19. Jahrhundert, gezeichnet von Industrialisierung und sozialer Ungerechtigkeit.
Der 'Ring' ist eine Beschreibung der schrecklichen Perversion der Gesellschaft, die sich in dieser Erhaltung der Macht begründet, den Mechanismen eines starken Staates und der Opposition
Zusammen mit dem Bühnenbildner Richard Peduzzi entwarf Chéreau konkrete Spielorte voller realer Assoziationen und Grausamkeiten: Die Rheintöchter bewohnen ein rohes Beton-Wehr, ein großes Räderwerk verbindet Walhall und Nibelheim, in Mimes Schmiede dominiert ein mächtiger Dampfhammer, bei den Gibichungen am Ende der Götterdämmerung sieht es aus wie in einer düstereren Straße einer Arbeitersiedlung. Siegmunds Tod wird in schonungsloser Brutalität als politisch motivierter Mord gezeigt, die Walküren-Szene spielt auf einem Nebel umwaberten Leichenfeld. Die Bilderwucht wie auch die schauspielerische Intensität der Darsteller waren vollkommen neu auf dem grünen Hügel, den Wolfgang und Wieland Wagners statische, kühl-abstrakte Inszenierungen in den Vorjahren geprägt hatten. Wotan und Siegfried werden nicht als väterlicher Weiser oder Held gezeigt, sondern als skrupellos, machtgierig und verlogen. Alberich und Mime sind bei Chéreau keine Bösewichte, sondern Opfer der bestehenden Machtstrukturen. Die auf der Bühne freigesetzten Emotionen fanden ein enormes Echo im Zuschauerraum, wo es 1976 zu tumultartigen Ausbrüchen, Schlägereien mit Trillerpfeifenlärm und Protestgebrüll kam. Die damals 79-jährige Winifred Wagner kommentierte das Geschehen mit den Worten:
Jetzt sind wahrhaft die Irren los.
Aber nicht die Regie allein wirkte so verstörend und aufwühlend, sondern auch im Orchestergraben geschah Unerhörtes mit Pierre Boulez am Pult, der sich weigerte die Wagnersche Wuchtspirale weiter zu drehen. Dieser französische Dirigent verlangte von den Musikern Pianissimo, Durchsichtigkeit, kammermusikalisches Zuhören und damit für viele Musiker nicht weniger als eine komplette Neudefinition des seit Jahrzehnten gewohnten Wagnerklanges. Einige Musiker wandten sich während der Probenzeit an Wolfgang Wagner, der ihnen erlauben sollte, wieder laut zu spielen. Boulez musste hart um seine Interpretation ringen, und ein paar Musiker quittierten den Dienst. In den sich steigernden Tumulten währen der vier Vorstellungen des ersten Zyklus verloren die Musiker durchaus gelegentlich die Nerven, doch Wolfgang Wagner stützte das Produktionsteam, selbst als die Gesellschaft der Festspielfreunde eine sofortige Absetzung der Produktion verlangte und den Festspielen Gelder entzogen wurden.
Regisseur Patrice Chéreau (rechts), Dirigent Pierre Boulez (links), Gwyneth Jones (als Brunhilde) und Rene Kollo (als Siegfried) | Bildquelle: picture-alliance/dpa Kein Ring-Regisseur kommt seitdem an Chéreaus Interpretation vorbei, jede Neuproduktion wird mit ihr verglichen, und ihre zeitlose Gültigkeit steht außer Frage. Die herausragenden schauspielerischen und sängerischen Leistungen der Solisten, die Bildgewalt und der musikalische Facettenreichtum dieses innerhalb von Jahren vom Mega-Skandal zur legendären Vorzeigeproduktion gewordenen Jahrhundertrings sind in Brian Larges Filmaufzeichnung in enger Abstimmung mit Chérau hervorragend dokumentiert und nach wie vor ein packendes Opernerlebnis. Erstmals seit dem letzten Vorhang 1980 ist diese Inszenierung nun wieder im Free-TV zu erleben.