BR-KLASSIK

Inhalt

100. Geburtstag von Boris Vian Surrealistischer Pazifist mit Liebe zum Jazz

Er schrieb Songs für Juliette Gréco und Henri Salvador, spielte in Clubs in Saint-Germain-des-Prés Jazz als Trompeter, inspirierte den Bürgerschreck Serge Gainsbourg zum Schreiben von Chansons, schrieb überdrehte Romane wie etwa "Der Schaum der Tage", fasste seinen Pazifismus in das berühmte Lied "Le déserteur", den fiktiven Brief eines Kriegsdienstverweigerers an den Präsidenten, schrieb Kritiken in der Zeitschrift "Jazz Hot" und war französischer Verbindungsmann für große amerikanische Jazzmusiker wie Duke Ellington und Miles Davis.

Bildquelle: picture alliance / akg-images

Das Porträt anhören

Mit diesen Zeilen identifizierten sich einige Jahrzehnte lang viele junge Menschen, nicht nur in Frankreich: "Monsieur le Président, ich schreibe Ihnen einen Brief, den Sie vielleicht lesen werden, wenn Sie Zeit haben. Ich habe gerade meinen Einberufungsbescheid bekommen und soll noch vor Mittwochabend in den Krieg ziehen. Monsieur le Président, ich werde das nicht machen, ich bin nicht auf der Erde, um arme Leute umzubringen. Ich will Sie nicht verärgern, aber ich muss Ihnen sagen: Mein Entschluss ist gefasst, ich werde desertieren." Von Joan Baez bis Hannes Wader haben viele Interpreten in den letzten Jahrzehnten dieses Lied gesungen – das in packender Direktheit 48 Verse lang begründet, warum für den Sprecher/Sänger der Krieg nicht infrage kommt. Es endet mit den starken Zeilen: "Wenn Sie mich verfolgen, dann setzen Sie Ihre Gendarmen davon in Kenntnis, dass ich keine Waffen tragen werde – und dass sie schießen können." Der französische Schriftsteller und Musiker Boris Vian schrieb diesen Text 1954 vor dem Hintergrund des Französischen Indochina-Krieges. Als im November 1954 schließlich der Krieg um die Unabhängigkeit Algeriens begann, wurde das Lied besonders brisant – und 1955 verboten. Französische Nationalisten störten sich an dem Aufruf zur Verweigerung von Waffengewalt und veranstalteten lautstarke Tumulte, wo immer das Lied öffentlich erklang.

Boris Vian auf BR-KLASSIK

18. März 2020: Classic Sounds in Jazz
"Vivre sa vie": Mit Aufnahmen von Camille Bertault, Henri Salvador, Norma Winstone und anderen – sowie Liedern mit Texten des Dichters und Trompeters Boris Vian.
Moderation und Auswahl: Beatrix Gillmann

Ich werde auf eure Gräber spucken

Der Autor des Chansons, der am 10. März 1920 in der Nähe von Paris geborene Boris Vian, war ein schillernder Intellektueller im Frankreich der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg. Allerdings einer, der zu Lebzeiten weit weniger Ruhm erntete als durch die Nachwelt. Vian starb bereits 1959 – noch keine vierzig Jahre alt – infolge eines Herzanfalls während der Vorführung eines Films nach seinem Roman "J’irai cracher sur vos tombes" ("Ich werde auf eure Gräber spucken") in einem Kino in der Nähe der Champs-Élysées in Paris. Bereits in seiner Jugend hatte er eine Herzmuskelschädigung aufgrund einer Typhus-Erkrankung erlitten.

Der Geistes-Abenteurer mit dem "Kammophon"

Boris Vian | Bildquelle: picture-alliance/dpa Boris Vian an der Schreibmaschine (Aufnahme von 1956) | Bildquelle: picture-alliance/dpa Vian hinterließ ein Werk von fast chaotisch anmutender Vielfalt: Chansons, Jazzkritiken, surrealistische Romane, Gemälde; außerdem war Vian ein begabter Wortschöpfer, man schreibt ihm das französische Wort "tube" zur Bezeichnung eines musikalischen Schlagers zu, einen mit Butterbrotpapier präparierten Kamm zum Hervorbringen von Tönen nannte er "peignophone" (Kammophon); seine Taschentrompete taufte er "Trompinette", mit Freunden gründete er einen Intellektuellenzirkel mit dem Namen "Club des Savanturiers" (etwa: Club der Geistes-Abenteurer). Vian hatte ein Diplom als Ingenieur, gab eine Anstellung in diesem Beruf aber bereits 1947 auf, um als Journalist für verschiedene Zeitschriften zu arbeiten – nicht zuletzt die satirischen "Chroniques du menteur" (Beiträge des Lügners) in Jean-Paul Sartres literarisch-politischer Zeitschrift "Les Temps Modernes" (Die modernen Zeiten). Während seiner letzten Lebensjahre nahm Vian wieder eine feste Anstellung an: als stellvertretender künstlerischer Direktor des Schallplattenverlags Philips, wo er unter anderem für den Jazzkatalog verantwortlich war. Während dieser Zeit übersetzte er auch Lieder von Bertolt Brecht und Kurt Weill ins Französische, zum Beispiel das Lied vom "Surabaya-Johnny".

im engen Kreis um "Jean-Sol Partre"

Vian gehörte in den 1940er- und 1950er-Jahren zum Kreis um den Existenzphilosophen Jean-Paul Sartre (dessen Name verballhornt in einem von Vians Büchern vorkommt: Jean-Sol Partre), inklusive Simone de Beauvoir und dem weiteren Schriftstellerkollegen Raymond Queneau im Intellektuellenviertel Saint-Germain-des-Prés. Einer Schilderung von Juliette Gréco zufolge war Vian daran beteiligt, dass sie, die damalige "Muse der Existentialisten" und über Jahrzehnte herausragende Chanson-Interpretin, im Mai 1949 anlässlich eines Konzerts in der Salle Pleyel den amerikanischen Trompeter und Star des ganz modernen Jazz, Miles Davis, kennenlernte. Sie verliebte sich in den Trompeter, nachdem Boris Vians Frau sie durch die Kulissen in den Konzertsaal hineingeschleust hatte.

Baez, Biermann und der Autor mit dem gezackten Profil

Boris Vian: ein Künstler, ein Vermittler, ein Eigenwilliger. Ein Mann mit vielfach gezacktem Profil. Und einer, der seiner Zeit voraus war – wodurch seine Zeitgenossen weder den Gedanken noch den Schriften Vians folgen mochten. Dann entdeckten junge Musik- und Kulturinteressierte in den 1960er- und 1970er-Jahren entdeckten sein Schaffen für sich. Nicht zuletzt durch große Figuren wie Joan Baez, die den "Deserteur" während des Vietnam-Krieges aufgriff und später immer wieder sang (bis in die jüngste Zeit). In Deutschland entdeckten viele junge Leser die Bücher und Songtexte Boris Vians durch bibliophile Ausgaben in respektablen Übersetzungen, außerdem sangen verschiedene deutsche Liedermacher in den frühen Achtzigern im Zuge der Friedensbewegung das Lied vom Deserteur in ihren eigenen deutschen Nachdichtungen, darunter auch Wolf Biermann.

Eine Seerose in der Lunge

Boris Vian | Bildquelle: picture-alliance/dpa Boris Vian mit seiner Frau Ursula Kuebler (Aufnahme von 1956) | Bildquelle: picture-alliance/dpa "Ich bin Snob", "Tanz der Komplexe" oder auch "Die fröhlichen Schlächter" – so heißen Lieder mit Texten dieses eigenwilligen Dichters. Oder auch: "Die Java der Atombomben". Dieses Lied erzählt von einem verrückten Onkel, der an einer Bombe bastelt, die bei einer Vorführung vor Vertretern des Staates in die Luft geht – woraufhin ihm zunächst der Prozess gemacht und ihm anschließend ein Denkmal gesetzt wird. Vian sang manche seiner Lieder selbst; das tat er mit expressiver, etwas schneidender Stimme, denn an Schönklang war er nicht interessiert. Aber eben an Ausdruck – und häufig stark auch an Plakativität. In seinen Romanen schrieb er eine besonders verspielte Prosa, aus der Leser mühsam die Handlung herausdestillieren müssen – aber eine von sprachschöpferischer Kraft. "Colin schlüpfte in seine Sandalen aus Haifischleder und zog seinen eleganten Hausanzug an, tiefseegrüne Cordsamthosen und eine Jacke aus haselnussbraunem Wollsatin. Er hängte das Handtuch über die Stange, legte den Badeteppich auf den Wannenrand und bestreute ihn mit grobem Salz, um ihm das aufgesogene Wasser zu entziehen. Der Teppich begann zu sabbern und stieß Trauben von kleinen Seifenblasen hervor": So klingt eine Passage aus seinem Roman "Der Schaum der Tage", in dem ein Mann, Colin, und eine Frau, Chloé, heiraten und sich auf Hochzeitsreise begeben, während der eine Schneeflocke in Chloés Mund fliegt, sich in ihrer Lunge festsetzt und dort dazu führt, dass eine Seerose in ihr wächst. Eine verrückt-tragikomische Geschichte, sehr typisch für ihren Urheber.

Lektion der "Wilden" für die "Zivilisierten"

Durchweg zupackend waren Boris Vians Texte über Jazz. Denn als praktizierender Musiker, der bereits in den 1940er-Jahren in Pariser Clubs gespielt hatte und als Trompeter im Orchester von Claude Luter geschickt Einflüsse von Bix Beiderbecke und Rex Stewart verarbeitete, verfügte Vian über eine sehr klare Urteilsfähigkeit. Und seine Texte über Jazz waren von so viel Drive und Attacke geprägt, dass sie noch heute eine zwingend-swingende Überzeugungskraft haben. Wie etwa dieser: "Beim ersten Mal waren Sie vom Jazz schockiert; Achtung! Vielleicht war es falscher Jazz, eine schlechte Imitation. Der echte Jazz, das ist 'zuallererst Musik', wie der gute Verlaine gesagt hätte. Machen Sie es nicht wie diese idiotischen Kritiker, die in regelmäßigen Abständen das abgelatschte Klischee wieder rausholen: 'Jazz ist Musik für Wilde'! (…) Wenn Ihre musikalische Bildung vernachlässigt worden ist – nicht nötig, einen dornigen Weg zu ihrer Vervollständigung einzuschlagen: die schnelle Entwicklung des Jazz wird Sie unmerklich  (…) zu den raffiniertesten Versuchen der derzeitigen Arrangeure führen (…). Es wäre nicht das erste Mal, dass die 'Wilden' den 'Zivilisierten' eine Lektion erteilt hätten."

    AV-Player