1969 startete ganz klein ein Label, das fortan die Geschichte zeitgenössischer Musik wesentlich mitprägte: die "Edition of Contemporary Music", kurz ECM. Die erste LP erschien am 24. November 1969, mit dem Titel "Free at Last". Es war eine Platte des amerikanischen Pianisten Mal Waldron, der damals in München lebte. Benannt war es nach den letzten Worten aus Martin Luther Kings großer Rede "I have a dream".
Bildquelle: Manfred Scheffner / ECM Records
Das Album "Free At Last" von Mal Waldron war der Beginn einer bedeutenden Geschichte: derjenigen des Labels ECM, das als kleines Label für Avantgarde-Jazz begann und zu einem der renommiertesten Tonträger-Verlage der Welt wurde. Gerade im Jazz ist zu beobachten, dass herausragende Labels auch die Geschichte der Musik selbst stark beeinflussen. Das ist bei Blue Note der Fall, jenem Label, das 1939 von zwei Emigranten aus Deutschland in New York gegründet wurde und einen eigenen, sehr plastischen Klang prägte. Und das ist auch bei dem 30 Jahre jüngeren Label ECM aus München so.
ECM – das von dem Labelchef und Produzenten Manfred Eicher übrigens konsequent wie eine deutschsprachige Abkürzung ausgesprochen wird und nicht wie eine englischsprachige – steht für einen besonders offenen musikalischen Horizont und für Aufnahmen ausnehmend hoher Qualität, die mit einer Ästhetik der Verpackung einhergehen, die ebenfalls Schule gemacht hat. Wie die Umschläge von Lyrikbänden oder auch von Kunstkatalogen - aber in anderem Format - sehen die CD-Hüllen dieses Labels aus, dezent und mit viel Luft gestaltet und stets mit der genauen Information über Aufnahmedatum und -ort versehen. Das hat mit der Genauigkeit der Dokumentation zu tun - und ist gleichzeitig ein Hinweis darauf, dass Musik-Einspielungen auch im Studio immer nur Momentaufnahmen sind.
Aufnahme in Oslo 1976 | Bildquelle: ECM Records / Roberto Masotti 1969 gründete der studierte Kontrabassist Manfred Eicher auf Anregung des Unternehmers Karl Egger, der ihm Geld und Räume zur Verfügung stellte, und mit Hilfe des Jazzversand-Betreibers Manfred Scheffner das Label ECM. Eicher war zwar als Bassist gut beschäftigt, aber nach eigener Aussage in einem Interview mit BR-KLASSIK war ihm klar, dass er nie das Niveau von Musikern wie Charlie Haden, Scott LaFaro oder Steve Swallow erreichen würde. Er bewunderte Aufnahmen, wie sie etwa der Produzent Orrin Keepnews mit dem Trio des Pianisten Bill Evans gemacht hatte – und es reizte ihn, selbst Musik als Produzent zu gestalten. Eine wichtige frühe Arbeit war das Album "Afric Pepperbird" von 1970 mit dem norwegischen Saxophonisten Jan Garbarek und seiner Band. Toningenieur war damals bereits Jan Erik Kongshaug, der am 9. November 2019 in Oslo verstorben ist. Die Aufnahmen von "Afric Pepperbird" schickte Eicher damals noch vor Erscheinen der Platte an einen 1945 geborenen amerikanischen Pianisten, den man von der Band des Saxophonisten Charles Lloyd und auch durch die Zusammenarbeit mit dem Trompeter Miles Davis kannte. Dieser Musiker war Keith Jarrett - der zum Jazz-Weltstar und zum größten Exponenten des Labels ECM werden sollte. Zusammen mit den Garbarek-Aufnahmen schickte Eicher an Jarrett einen Brief, in dem er erläuterte, wie er die Musik der Pianisten am liebsten aufnehmen würde - und schlug ihm auch gleich verschiedene Projekte vor. Jarrett biss an und am 10. November 1971 entstanden in Oslo die Aufnahmen für die LP "Facing you", die dann 1972 erschien: die erste Zusammenarbeit von Pianist Keith Jarrett und Manfred Eicher - mit Jan Erik Kongshaug am Mischpult.
Keith Jarrett | Bildquelle: ECM Records/ Rose Anne Colavito Die Zusammenarbeit mit Keith Jarrett ist bis heute die erfolgreichste des Labels ECM. Von Jarrett stammt die meistverkaufte Klavier-Solo-Aufnahme mindestens des Jazz, das vier Millionen mal abgesetzte "Köln Concert" von 1975. Bis heute ist es ein von den Medien vielbeachtetes Ereignis, wenn ein neues Album des Pianisten erscheint – wie erst vor kurzem die Doppel-CD "Munich 2016" mit dem Mitschnitt eines Konzerts aus der Münchner Philharmonie vom 16. Juli 2016. Über seine Entscheidung, sich dem damals unbekannten Label anzuschließen – Manfred Eicher: "Wir waren damals eine kleine Mücke" –, gab Keith Jarrett in einem BR-KLASSIK-Interview wie folgt Auskunft. Über Eicher sagt er: "For me he was the perfect producer. He could hear very well, he could tell when things were good. In that sense, he is the best friend I have." Ein Produzent, der einen wachen Sinn hat für das, was in der Musik vorgeht, war für Jarrett gleich von Anfang an der ideale Produzent und Eicher damit "der beste Freund, den ich habe".
Von Keith Jarrett stammt nicht nur die erfolgreichste Aufnahme aus den bisher 1600 Produktionen des Labels, sondern auch diejenige, die nach Verkaufszahlen Rang fünf einnimmt: "The melody at night, with you" mit rund 800 000 Exemplaren. An zweiter, dritter und vierter Stelle sind "Offramp" von Pat Metheny, "Officium" von Jan Garbarek mit dem Hilliard Ensemble und "Return to Forever" von Chick Corea, die alle bei etwa 1,1 Millionen liegen. Zu diesen Erfolgen kommen etliche Auszeichnungen: Allein in jüngerer Zeit gewannen das Label und Eicher als Produzent die Kritiker-Umfrage des amerikanischen Magazins "Down Beat" elfmal – als "Label of the year" und "Producer of the year". Es gab diverse Grammys und natürlich Grammy-Nominierungen – und Eicher wurde 2018 zu den nur 100 Ehrenmitgliedern der vor 200 Jahren gegründeten Royal Academy of Music in England berufen.
Arvo Pärt | Bildquelle: Roberto Masotti / ECM Records Anfangs hatte sich ECM auf amerikanischen und europäischen Avantgarde-Jazz konzentriert. Aber dieser Ansatz wurde bald ausgeweitet. Mit der magisch-einfachen Klangsprache des estnischen Komponisten Arvo Pärt, mit der Gesamtaufnahme der 32 Klaviersonaten Beethovens durch András Schiff. Aber auch mit Kammer- und Orchestermusik des österreichischen Komponisten Thomas Larcher hat ECM in seiner 1984 zusätzlich auf den Weg gebrachten "New Series" in der Welt der klassischen und der zeitgenössischen komponierten Musik eigene Akzente gesetzt. Und nicht zuletzt auch Musikern wie dem georgischen Komponisten Giya Kancheli, dem Ukrainer Valentin Silvestrov – der Eicher seine "Stille Musik für Streichorchester" widmete – und dem Ungarn György Kurtág ein Forum geboten.
Die Trompeter Enrico Rava und Tomasz Stanko, die Saxophonisten Dewey Redman, Charles Lloyd und Mark Turner, die Komponistin Carla Bley, die Vokalistin Norma Winstone, die Gitarristen Bill Frisell und Pat Metheny, Gruppen wie das Art Ensemble of Chicago und viele andere mehr gehören zu den Künstlern des Labels. Wie entstehen die Aufnahmen mit ihnen und anderen? Gitarrist Wolfgang Muthspiel schildert, der Produzent Manfred Eicher tauche wie ein Mitmusiker ins klangliche Geschehen ein, und es gehe ihm vor allem um den musikalischen Flow. Muthspiels Kollege Ralph Towner bestätigt das: "Da gibt es im Studio nicht viele Worte, kein ‚Mach bitte dies oder das‘ oder ‚Ich habe die oder jene Vorstellung‘, nichts davon: Man spielt, und Manfred hat die Fähigkeit entwickelt, zu spüren, ob die Musik in einem logischen Fluss ist oder nicht." Der Grieche Sokratis Sinopoulos erzählt, er sei vor seiner Zeit bei ECM von anderen Labels wie ein "Freak", gar wie ein Alien behandelt worden - nur weil er das seltene kretische Streichinstrument Lyra spielt, ein kleines, birnenförmiges Ding mit drei Saiten. Manfred Eicher jedoch habe ihm zu verstehen gegeben: Kommen Sie zu uns einfach so, wie Sie sind.
Von der Musik spricht Manfred Eicher auch als "einer Luftkunst, die aus dem Nichts kommt und im Nichts verschwindet". Das festzuhalten, was dazwischen geschieht, das ist eine Spezialität, die das Münchner Label ECM und sein Produzent besonders feinfühlig beherrschen. Die Veröffentlichungen des Labels sind Schulen des Zuhörens. Nicht von ungefähr fangen alle Alben mit fünf Sekunden Stille an, damit man Atem holen kann. Man müsse wieder das Zuhören lernen - das ist ein Satz, der Eicher besonders wichtig ist. Und er meint damit auch ein Zuhören in Bereichen, die für viele eher an den Rändern liegen. Seit langem hat er immer wieder Musik aus Ländern wie Albanien, Armenien oder den Baltischen Staaten veröffentlicht. Und ein Satz von ihm könnte aktueller nicht sein, wenn man ihn auf das politische Leben in mittlerweile sehr vielen Ländern der Welt bezieht: "Es ist gut, aufmerksam zuzuhören, auch bei Tönen, die uns zunächst fremd erscheinen."
Sendung: "Jazz Unlimited" am 29. November 2019, 23.05 Uhr auf BR-KLASSIK