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John Coltrane - 50. Todestag Ein spiritueller Sinnsucher

"Ich kann nichts tun, wenn es nicht in das Extreme geht", sagte John Coltrane über sich. Zu einem Neuerer des Jazz und zum wagemutigsten Spieler seiner Generation hat er es mit dieser Haltung gebracht. In einem verhältnismäßig kurzen Zeitraum schuf der Saxophonist ein Werk, das auch ein halbes Jahrhundert nach seinem frühen Tod noch Gültigkeit hat.

John Coltrane Jazzsaxophonist | Bildquelle: imago/United Archives

Bildquelle: imago/United Archives

Extrem waren seine Soli in ihrer Ausdruckskraft und in ihrer außergewöhnlichen, harmonischen Ausdehnung. Hochkomplex gestaltete er mit rasant entwickelten, immer überraschenden Einfällen ihre Spannungsbögen aus. Dabei schien er oft getrieben von großer Rastlosigkeit - auf der Suche nach musikalischem Neuland. Ein Großteil seiner Schöpfungen, vor allem aus seinen letzten Lebensjahren, schreckt in ihrer überfallhaften Wucht noch heute die Hörer ab. Als ich einmal seine letzten Live-Aufnahmen, "The Olatuji Concert" auflegte, verließ ein Besucher fluchtartig das Zimmer mit den Worten: "Das klingt wie verbrennende Elefanten".

Expressive Ausbrüche

Zwischen den vielen Vulkanausbrüchen in seiner Diskographie gibt es immer wieder lyrische Inseln, oft einzelne Stücke wie "Naima", manchmal ganze Alben wie "Ballads" - und seine intime Zwiesprache mit einem großen Sänger: "John Coltrane and Johnny Hartman". Sie zeigen, dass Coltrane neben expressiven Ausbrüchen auch das Auskosten schlichter, liedhafter Melodik liebte.

Zärtlicher, inniger und konzentrierter kann man langsame Stücke kaum spielen und ich habe erlebt, dass selbst Menschen, die sonst keinen Jazz mögen, davon feuchte Augen bekamen und kleine Kinder selig lächelnd dabei eingeschlafen sind. Solche Ruhepunkte zwischen den Stürmen, in denen er nicht nur introspektiver, sondern durchaus konventioneller musizierte, haben ihm, neben dem zugänglicheren Frühwerk, bis heute seine Popularität gesichert.

John Coltrane Quartet - "On green dolphin street"

Doch was heißt Ruhepunkte bei einem, der fast immer spielte: Er übte morgens vor den Plattenaufnahmen, tagsüber, wenn Besucher da waren, und nachts nach mehrstündigen Konzerten. Er grüßte die Menschen mit einem Kopfnicken, ohne sein Wunderhorn abzusetzen. Auch jenseits der Auftritte und Aufnahmen spielte Coltrane mit unglaublicher Intensität. Wie der Kritiker Ira Gitler einmal meinte, hätte Coltranes Energie genügt, um ein Raumschiff anzutreiben. Seine Soli bekamen so eine einzigartige Qualität und waren ungewöhnlich lang. Zu Miles Davis sagte der Saxophonist einmal, er wisse nicht, wie er aufhören solle, und bekam darauf von dem Trompeter den Tipp, er könne doch versuchen, sein Saxophon aus dem Mund zu nehmen.

Coltrane, der Spätstarter

Jazzsaxophonist John Coltrane | Bildquelle: Sepp Werkmeister Bildquelle: Sepp Werkmeister Coltrane war kein vom Himmel gefallenes Genie. Zu einem wirklich beachtlichen Saxophonisten war er erst mit 30 geworden. Und dann war es eine Kombination aus zähem Fleiß und Besessenheit, die dafür sorgte, dass sich der Spätstarter innerhalb eines Jahrzehnts rapide entwickelte. In der Zeit bis zu seinem frühen Krebstod im Alter von nur 40 Jahren machte sein Spiel viele Wandlungen durch und jede von ihnen hatte Wirkung auf die Jazzgeschichte: vom Hard Bop zu seiner "Sheets of sound"- Periode, dann vom modalen Jazz zum Free Jazz der letzten Jahre. Er beeinflusste nicht nur Saxophonisten, sondern Musiker aller Instrumente - und sein Einfluss reichte über den Jazz hinaus. Nur Coleman Hawkins und Lester Young hatten vor ihm eine vergleichbare Rolle gespielt.

Unter vielfältigem Einfluss

Diese beiden und Ellingtons Altist Johnny Hodges hatten bewirkt, dass der am 23.September 1926 in Hamlet, North Carolina, geborene John Coltrane als Zwölfjähriger von der Klarinette zum Saxophon wechselte. Bis 1939 verlief seine Kindheit glücklich. Dann verlor er kurz hintereinander Tante, Großeltern und Vater. Seine Mutter war gezwungen, sich mit verschiedenen Jobs durchzuschlagen. Die Musik rückte ins Zentrum seines Lebens - anstelle seiner wichtigsten Bezugspersonen.

Da seine Familie gläubig und beide Großväter Geistliche waren, wurde er stark von schwarzer Kirchenmusik geprägt - besonders von ihrer ekstatischen Gottverbundenheit. In Philadelphia sammelte John Coltrane in der Nachkriegszeit erste Erfahrungen in Jazzbands. 1949 stieß er zu Dizzy Gillespie und wechselte vom Alt- zum Tenorsaxophon. Der große Bebop-Trompeter entließ ihn aber bald wegen seiner Drogensucht. Wegen ihr kam seine Karriere, trotz Engagements bei so bekannten Bandleadern wie Earl Bostic und dem Jugendidol Johnny Hodges, nur zögerlich in Gang. Als er mit 29 zu Miles Davis kam, war er noch so weit von seiner künstlerischen Reife entfernt, dass man dem Trompeter riet, den unausgegoren spielenden Musiker wieder nach Hause zu schicken.

Sheets of Sound

Mit den Saxophonisten John Coltrane und Cannonball Adderley sowie Pianist Bill Evans im Studio | Bildquelle: Rue des Archives/AGIP/Süddeutsche Zeitung Phot Bildquelle: Rue des Archives/AGIP/Süddeutsche Zeitung Phot Doch in Miles Davis' Quintett spielte Coltrane schon bald seine ersten vollkommenen Soli. Die Musik lebte vom spannungsreichen Kontrast zwischen den cool geblasenen Trompetentönen und den erhitzten, eloquenten Improvisationen "Tranes" - etwa in "Round About Midnight". In jener Zeit erlebte Coltrane eine Art religiöser Erweckung und im Zusammenhang damit gelang ihm ein radikaler Heroinentzug. Damit war 1957 ein großer Wendepunkt in seinem Leben erreicht. Ein Engagement bei dem Pianisten Thelonious Monk förderte in diesem Jahr die weitere, schnelle Reifung des Saxophonisten. Wie Miles beschränkte sich Monk auf das Essentielle, und das schien den sprudelnden Ideenstrom "Tranes" besonders anzuregen. Bei Monk entwickelte Coltrane eine Spielweise, für die der Jazzkritiker Ira Gitler den Begriff "Sheets of Sound" prägte. Er packte so viele Töne in einen Akkord, dass man meinte, eine Klangfläche zu hören. John Coltrane perfektionierte diese Technik in den folgenden Jahren und verband sie auf eigenen Alben wie "Giant Steps" mit einer komplexen Harmonik.

Von "Kind of Blue" zur spirituellen Sinnsuche

Von 1958 bis 1960 spielte er wieder bei Miles Davis. Die auf dem Jahrhundertalbum "Kind Of Blue" verwendeten Skalenimprovisationen des modalen Jazz bestimmten die frühen 60er Jahre, in denen John Coltrane seine größten Erfolge feierte. Mit "My Favorite Things" trug er in dieser Zeit auch entscheidend zum Comeback des Sopransaxophons bei.

John Coltrane Quartet in Belgien 1965 - "My favorite things"

Doch nie richtete er es sich in einem Stil gemütlich ein. Die fünf Jahre seines "klassischen" Quartetts mit Pianist McCoy Tyner, Bassist Jimmy Garrison und Schlagzeuger Elvin Jones waren von einer Kontinuität des ständigen Aufbruchs geprägt. Diese Band sendete immer neue Impulse in das Jazzumfeld. Einige waren von John Coltranes tiefem Interesse an asiatischer Musik geprägt. Die unendlichen Längen indischer Ragas faszinierten ihn und in Stücken wie "India" bezog er sich auf sie. Er stand im Briefwechsel mit dem legendären Sitar-Spieler Ravi Shankar, nach dem er seinen Sohn nannte, der selbst Saxophonist geworden ist.

"Ich glaube an alle Religionen"

Er beschäftigte sich mit Buddhismus und Hinduismus, aber auch mit dem Islam, dem viele seiner musikalischen Weggefährten, wie zum Beispiel McCoy Tyner, angehörten. Er sagte: "Ich glaube an alle Religionen" und meinte damit ihren gemeinsamen Kern. Sein spirituelles Bekenntnis hat er 1964 vor allem mit dem Album "A Love Supreme" abgelegt und auf Alben wie "Ascension" und "Om" bekräftigt. Jazz, eine Musik als Weg zu Gott - und das, obwohl diese Musik Jahrzehnte als ausgesprochen weltlich, manchen gar als sündig galt. Auch damit wies Coltrane vielen den Weg. Als er sich in Bands mit seiner Frau Alice und dem Saxophonisten Pharoah Sanders immer mehr dem Free Jazz annäherte, verlor der Mathematiker der Töne und gottestrunkene Musikmystiker auch viele seiner Anhänger.

John Coltrane Quartet 1965 in Antibes - "Ascension"

Marathonläufer und Sprinter zugleich

Heute gehören transkribierte Soli von John Coltrane zum Grundstock der Ausbildung jedes angehenden Jazzsaxophonisten. Als man ihn selbst einmal bat, eines seiner Soli nach einer Transkription nachzuspielen, meinte Coltrane: "Das kann ich nicht. Es ist zu schwer." Etwa der Gebrauch von 'multiphonics' - das gleichzeitige Spielen mehrerer Noten bzw. Töne, wie der Jazzpädagoge David Baker sagte. Wer alle Möglichkeiten analysieren will, die Coltrane entwickelte und nutzte, braucht Zeit. In seinen gehaltvollen Soli vereinte er die Ausdauer eines Marathonläufers mit der Geschwindigkeit eines Sprinters.

Dank der ab Ende der 1940er Jahre aufkommenden Langspielplatte konnte dieses wesentliche Charakteristikum seiner Kunst dokumentiert werden. Auf Miles Davis Frage, warum er so lange improvisiere, antwortete Coltrane, er müsse so lange Soli spielen, um alles hineinzupacken, was ihm einfalle. Und von diesen Einfällen zehren die Musiker heute noch.

John Coltrane auf BR-KLASSIK in der "Jazztime" am 17. Juli 2017, 23.05 Uhr

Giant Steps and more: Zum 50ten Todestag von John Coltrane
Henning Sieverts erinnert an den großen amerikanischen Tenor- und Sopransaxophonisten in Meisteraufnahmen aus den 60er Jahren.

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