Einer, der gut ist für ekstatische Momente, die Fans unterschiedlichster Lager gefallen: Keith Jarrett, der Pianist des vier Millionen Mal verkauften "Köln Concert", feiert am 8. Mai seinen 75. Geburtstag. Seit zwei Jahren ist Jarrett nicht mehr aufgetreten. Sein Oeuvre an starken Live-Aufnahmen ist jedoch beträchtlich.
Bildquelle: ECM Records/ Rose Anne Colavito
Das Geburtstagsporträt zum Anhören
Irrsinn: diese Versenkung, diese Intensität in zarten Tönen! Wenn der Pianist Keith Jarrett, mit katzengleich gekrümmtem Rücken über die Tasten gebeugt, einen Evergreen wie "Over The Rainbow" spielt, dann kommen Musikfans ins Schwelgen. Wie etwa im Juli 2016 in der Münchner Philharmonie im Gasteig, diesem oft als kühl geschmähten Saal, der bei der letzten Zugabe von Jarretts Solo-Konzert wie durchflutet von sanften, warmen Wellen wirkte. Mit feinen Arpeggien und ungemein sensibel herausgearbeiteter Melodie entfaltete Jarrett da den ganzen Zauber seines Fingerspitzengefühls an den Tasten. Und zugleich zeigte er, dass er auch ein so bekanntes Stück jedesmal ein bisschen anders spielt: Es gibt mehrere Live-Aufnahmen von ihm mit dieser lyrischen Perle des Jazz-Repertoires – und alle haben eine ganz eigene Atmosphäre und einen völlig unterschiedlichen Aufbau. Danach: ein selig und stürmisch zugleich applaudierendes Publikum – davon einige, die den Star des Abends mit dem Handy fotografieren, als er sich verbeugt. Doch das ist eine Sünde, die Jarrett nicht duldet. Und sofort springt der Teufel aus der Schachtel: Jarrett beschimpft die armen Übeltäter mit richtig bösen Worten. Eine unschöne Schluss-Coda eines Abends, den manche Jarrett-Fans als Sternstunde empfunden haben.
Pianist Keith Jarrett | Bildquelle: Woong Chul An Aber so ist er, dieser Musiker, der für Superlative steht. Sein "Köln Concert" von 1975 ist mit vier Millionen Exemplaren das meistverkaufte Jazz-Soloalbum der bisherigen Geschichte. Außerdem auch die meistverkaufte Klavier-Soloplatte aller Genres. Sein Biograph Wolfgang Sandner, ehemals Musikkritiker bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, nennt ihn den "größten Klavier-Improvisator unserer Tage". Für viele Konzertbesucher und -besucherinnen ist ein Konzert von Jarrett auch eines der begehrtesten Live-Events. Zumindest war es das, bis Jarrett aus gesundheitlichen Gründen seit dem Frühjahr 2018 nicht mehr auftrat. Rar machte er sich immer wieder, vor allem als er Ende 1996 am sogenannten Chronischen Erschöpfungs-Syndrom erkrankte und jahrelang nicht auftreten konnte. Um so begehrter waren nach seinem Wiedereinstieg ins Konzertleben seine Solo-Abende. Seit 1973 hatten diese Konzerte eine besondere Aura um sich geschaffen: mit Musik-Marathonstrecken, in denen Jarrett oft mehrere Teile von jeweils über einer halben Stunde Dauer improvisierte. 2005 in der New Yorker Carnegie Hall modifizierte er die Form dann – indem er zwischendurch öfter mal absetzte und pro Abend eine ganze Reihe von Teilstücken unterschiedlichen Charakters improvisierte. 2018 schließlich sagte er diverse Konzerte ab, sogar jenes, mit dem sich er Ende September des Jahres für den Goldenen Löwen der Musikbiennale in Venedig bedanken wollte. Den erhielt er als erster Jazzmusiker der Geschichte. Das Letzte, womit Jarrett öffentlich für Aufhorchen gesorgt hat, war im November 2019 die Veröffentlichung seines Münchner Solo-Gastspiels vom Juli 2016. Über seinen Gesundheitszustand lässt sein Plattenlabel, die Münchner Firma ECM, nichts heraus – nur, dass Jarrett zurzeit nicht in der Lage sei, Konzerte zu geben. Fans hoffen darauf, dass es bald wieder so weit ist.
Keith Jarrett wurde am 8. Mai 1945 geboren, dem europäischen Tag der Befreiung. Er war der älteste von fünf Söhnen einer Mutter mit osteuropäischen und eines Vaters mit westeuropäischen Wurzeln. Seine jüngeren Brüder Scott und Chris Jarrett sind ebenfalls Musiker geworden, der eine Singer-Songwriter, der andere Pianist. Keith Jarrett trat schon als Siebenjähriger auf, galt als Wunderkind, mit 18 Jahren spielte er bei den berühmten "Jazz Messengers" des Schlagzeugers Art Blakey, mit 21 bei dem Saxophonisten Charles Lloyd. Mit 23 gründete er sein erstes eigenes Trio, und mit 24 war er Mitglied in der Band des Trompeters Miles Davis, der Galionsfigur des modernen Jazz. Bei ihm blieb er von 1969 bis 1971. Kurze Zeit später begann er das, wofür er besonders berühmt wurde: Er spielte Solo-Konzerte mit ausufernden freien Improvisationen, die meist ganz unterschiedliche Musikwelten streiften, von der Folk Music bis hin zur Romantik.
Die Solo-Karriere Jarretts wurde wesentlich von dem Münchner Produzenten Manfred Eicher befördert. Eicher gefiel Jarretts Musik, und er schrieb dem Musiker dann einfach einen Brief und legte eine Testpressung einer seiner aktuellen Produktionen bei. In dem Brief legte er dar, wie Jarretts Musik seiner Meinung nach aufgenommen werden sollte. Jarrett ging darauf ein, nahm im November 1971 in Oslo dann das Solo-Album "Facing you" auf. Und es folgten viele Alben bei Eichers Label ECM, darunter das "Köln Concert". Auch ein späteres Album Jarretts gehört zu den Bestsellern des Labels, nämlich "The melody at night, with you", das 800.000 Mal verkauft wurde. Es entstand während Jarretts Leiden am Chronischen Erschöpfungssyndrom und enthält zart interpretierte Evergreens ohne jede virtuose Zutat – aber gespielt mit starkem Sinn für Melodien und für Atmosphäre.
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Keith Jarrett - Tokyo Solo 2002 Encores
Das "Köln Concert" hat eine Geschichte, die an Kuriosität kaum zu überbieten ist. Diese Sternstunde der improvisierten Musik wäre nämlich beinahe ausgefallen. Die Umstände waren eigentlich unfassbar. Jarrett war zusammen mit Produzent Manfred Eicher im Auto – und zwar den Schilderungen zufolge einem R4, einem Modell also, das nicht gerade für Komfort stand – aus der Schweiz nach Köln gereist, war völlig übermüdet und fand dann ein ungenügendes Instrument in der Kölner Oper vor. Bühnenarbeiter hatten statt eines vereinbarten Konzertflügels einen Stutzflügel aus einer Garderobe auf die Bühne gebracht, laut Jarretts Biograph Wolfgang Sandner "ein strapaziertes Instrument, das sonst nur noch für Chorproben verwendet wurde, schlecht intoniert war, keine brauchbaren Höhen mehr hatte und dessen rechtes Pedal und einige Tasten nicht einwandfrei funktionierten." Unglaublich, dass solch widrige Umstände zu einer Aufnahme von historischem Rang führten.
Ekstatischer Virtuose: Keith Jarrett in den 70er Jahren | Bildquelle: picture-alliance/dpa Auf einem schlechten Instrument musste Jarrett seine Aussagen bündeln, musste sich nach dem richten, was auf dem Instrument möglich war – und schaffte es vielleicht gerade dadurch, Musik von besonders direkter Wirksamkeit zu spielen. Eine Wirksamkeit, die aber dennoch nicht so sehr zur Hauptsache wurde, dass er alles Subtile aufgeben musste. Es gibt viel bessere Klaviere, aber im Schaffen Jarretts nicht viele musikalische Momente, die besser sind. Einen melodischen Charme wie im "Part I", den Jarrett mit den Tönen des Pausengongs der Kölner Oper begann, muss man auch in seinem Oeuvre lange suchen; und einen rhythmischen Drive wie im "Part IIa", der über einem packenden, schnellen Ostinato auf dem Ton D beginnt, improvisierte auch dieser Musiker nicht alle Tage. Trotzdem möchte Jarrett diese Aufnahme am liebsten vergessen machen. Sie legt ihn zu sehr fest auf Erwartungen. Und die erfüllt er nicht gern. Sein Ideal, das hob er oft hervor, sei bei den Solo-Konzerten eine Art Tabula-rasa-Situation, in der er ganz aus dem Moment heraus improvisiere, ohne auf vorbereitetes Material zurückzugreifen. Wer das "Köln Concert" Jarrett gegenüber lobt, muss mit harschen Reaktionen rechnen. Das erlebte sein Biograph Sandner. Nach einer positiven Bemerkung über das Werk bei einem Empfang brach Jarrett den Kontakt zu Sandner einfach ab – mitten in dessen Arbeit, die Lebensgeschichte des Pianisten niederzuschreiben.
Schon im März 1973 hatte Jarrett ein Solo-Konzert in Lausanne eingespielt, im Juli darauf in Bremen. Das war der Anfang einer schier unglaublichen Serie hervorragender Solo-Aufnahmen, die mit dem gefeierten "Köln Concert" einen besonderen Schub bekamen. An so berühmten Orten wie der Salle Pleyel in Paris, der Wiener Staatsoper, der Suntory Hall in Tokyo, der New Yorker Carnegie Hall oder dem Gran Teatro La Fenice in Venedig entstanden sie in unterschiedlichen Jahrzehnten.
Eine weitere Säule in Jarretts Schaffen in den letzten Jahrzehnten waren Aufnahmen und Konzerte im Trio mit dem Bassisten Gary Peacock und dem Schlagzeuger Jack DeJohnette. Die Besetzung Klavier, Bass und Schlagzeug ist eine klassische Besetzung des modernen Jazz, die mit dem Pianisten Bill Evans in den 1950er Jahre erste Gipfelpunkte erreichte. Und danach unter anderem mit dem Mainstream-Giganten Oscar Peterson, dem europäischen Klavier-Genie Joachim Kühn – und eben Keith Jarrett. 1983 sorgte Jarretts Trio für eine Sensation, weil es Evergreens spielte. "Standards Vol. 1" hieß das erste Album aus einer großen Reihe, mit Aufnahmen vom Januar desselben Jahres aus New York City. Vor dieser Zeit waren im ganz aktuellen Jazz die Standards stark aus der Mode gekommen. Aber in den frühen Achtzigern entdeckten plötzlich ziemlich viele Avantgarde-Musiker wieder die alten Stücke. Der Jazz begann auf breiter Ebene, seine Geschichte aufzuarbeiten. Nicht zuletzt durch Jarrett. Im Trio mit den beiden genannten Partnern entstanden bis 2009 herausragende Aufnahmen, die meisten davon live. Zwei übrigens aus München: Mitschnitte von 1986 und 2001, "Still Live" und "The Out-of-Towners".
Schon lange vorher machte Keith Jarrett auf sich aufmerksam als außergewöhnliche Begabung. Er ist auf einigen herausragenden Alben anderer Bandleader vertreten. Etwa in der Band des Saxophonisten Charles Lloyd trat der damals 21-jährige Jarrett 1966 beim Monterey Jazz Festival in Kalifornien auf: Der Mitschnitt davon erschien auf der hervorragenden Platte "Forest Flower". Schon damals trat die elektrisierende Intensität des Pianisten deutlich zutage. 1967 machte Jarrett erstmals Trio-Aufnahmen mit Bassist Charlie Haden und Schlagzeuger Paul Motian ("Life Between The Exit Signs"), dann von 1971 an mit seinem "Amerikanischen Quartett", in dem Saxophonist Dewey Redman, Bassist Charlie Haden und Schlagzeuger Paul Motian seine Partner waren. Zu dieser Zeit entstanden etwa die Alben "Birth" und "Treasure Island" (1974, mit zusätzlichen Gästen). Gerade bei "Treasure Island" fällt auf, dass die Aufnahmequalität weit hinter dem zurücksteht, was man heute von Jarrett kennt. Ein etwas verwaschener Jazz-Folk-Fusion-Sound war das damals.
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Keith Jarrett European Quartet - Germany 1976_The Longer Man
1974 machte Keith Jarrett auch mit seinem sogenannten "Europäischen Quartett" aufregend starke Aufnahmen, die stilistisch eine ganz eigene Farbe fanden, da Jarretts europäische Partner unter anderem aus einer nordeuropäischen Folkmusik-Tradition schöpften. Diese Partner waren der Saxophonist Jan Garbarek, der Bassist Palle Danielsson und der Schlagzeuger Jon Christensen, allesamt aus Skandinavien. Mit ihnen entstand im April 1974 das Album "Belonging". Dieses Album fiel auch durch sein besonderes Cover auf. Auf einer strahlend blauen Wasserfläche liegen vier unterschiedlich farbige Luftballons eng nebeneinander in einer Reihe. Und die Musik war zupackend, groovend und zugleich lyrisch. Das und das Nachfolge-Album desselben Quartetts, "My Song", mit besonders berückenden Melodien, sind immer noch besondere Alben für lange, einsame Abende – also gerade jetzt eine Wiederentdeckung wert.
Stücke wie "My Song" oder "Long as You Know You're Living Yours" zeigen auch Jarretts große Begabung als Komponist griffiger und zugleich subtiler Melodien. Es gab vermutlich Zeiten, in denen er solche Melodien noch aufschreiben musste. Seit inzwischen rund fünfzig Jahren ist er aber in der Lage, in Konzerten spontan ergreifende Melodien zu erfinden. Dafür ist nicht zuletzt das Münchner Konzert von 2016 (Titel der Doppel-CD: "Munich 2016") ein gutes Beispiel. Deren Teilstück "Part III" klingt wie ein hinreißender lyrischer Evergreen, den man vorher noch nicht kannte – und nicht kennen konnte, weil er aus dem Nichts heraus improvisiert war.
Keith Jarrett versunken in die Musik | Bildquelle: Henry Leutwyler / ECM Records Den Augenblick in Tönen aufgehen zu lassen: Dafür ist Keith Jarrett seit fünf Jahrzehnten besonders berühmt. Es ist eine Kunst, die einst auch Bach und Beethoven besonders beherrschten. Der Jubilar des Jahres 2020, Ludwig van Beethoven, war ein gefeierter und von Konkurrenten gefürchteter Star des freien Fantasierens, wie man vor gut 200 Jahren sagte. Der Musikpublizist Konrad Heidkamp schrieb 2005 in der "Zeit" über die Kunst des Improvisierens, am Beispiel Jarrett: "Es ist das Grundprinzip des Lebens, der Improvisation: sich erinnern, was gewesen ist, um weiterspielen zu können und es im selben Augenblick zu vergessen, um frei zu sein. Wer so spielt, wer versucht, die Formeln und Schablonen im Kopf und in den Händen zu vermeiden, der bewegt sich nahe am Abgrund, im ständigen Versuch, die Balance zu halten." Ein musikalischer Hochseiltanz. Aber einer, der ganz nah am Leben ist – oder besser: am Abgrund des Lebens –, weil er so rückhaltlos auf den Augenblick reagiert.
In einem Interview mit BR-Klassik sagte Keith Jarrett 2013: "Ich lebe wahrscheinlich in der Musik - und ich versuche, sie an unterschiedlichen Orten immer wieder auf unterschiedliche Art aufblühen zu lassen." Wenn er auf der Bühne sitzt, ist er völlig auf die Töne fokussiert. Das erklärt aber auch, weshalb Keith Jarrett sich so gänzlich unsentimental über Orte äußert, an denen er gelebt hat oder die wichtige Punkte in seiner Karriere darstellten. Und auch über Zeitpunkte. Jarrett: "Ich verbinde keine Gefühle mit Plätzen. Ich glaube nicht an Geburtstage. Ich glaube nicht an dreißigste Jubiläen. Irgendwann hat jemand die Tage eines Jahres festgelegt und die zwölf Monate erfunden. Das geht mich alles nichts an. Die Frage, was ich bei München empfinde: Ich empfinde nichts. Kein Ort der Welt weckt bei mir Empfindungen. In München habe ich sogar eine kurze Zeit gelebt, am Anfang, als Manfred Eicher und ich miteinander zu Städten in Europa fuhren, wo ich Konzerte gab. Aber ein Gefühl zu München – nein. Ich wurde in Allentown, Pennsylvania, geboren. Was fühle ich, wenn ich an Allentown denke? Nichts, null. Und der Ort in New Jersey, an dem ich lebe? Auch nichts."
Keine Gefühle für Orte und Zeitpunkte, aber um so mehr für Töne. Keith Jarrett mag zu den empfindlichsten Musikern der heutigen Zeit gehören – mit Sicherheit gehört er zu den empfindsamsten. An einem jener Geburtstage, an die er nicht glaubt, kann man das ruhig mal sagen.
Classic Sounds in Jazz am 06. Mai 2020
"My Song"
Keith Jarrett und seine Klassiker
Moderation und Auswahl: Beate Sampson
All That Jazz am 07. Mai 2020
Zum 75. Geburtstag des Pianisten Keith Jarrett
Der widerborstige Überflieger
Porträt eines Tasten-Maniacs, der Konzertbesucher gern zum Schwelgen bringt, sie manchmal aber auch schroff verärgert, und der seit Jahren auf Kriegsfuß mit seinem genialsten Wurf steht, dem "Köln Concert". Seine Solo-Abende sind Orgien der Suche nach Unerhörtem, seine Aufnahmen seit Jahrzehnten Ereignisse.
Moderation und Auswahl: Roland Spiegel
Klassik-Stars am 08. Mai 2020
Keith Jarrett - Cembalo, Klavier
Jazztime Extra am 08. Mai 2020
Swinging Schwabing
Mitschnittshighlights des Bayerischen Rundfunk aus mehr als 60 Jahren aus legendären Clubs wie dem Domicile, dem Studio 15, der Seidlvilla oder dem Heppel&Ettlich, sowie Münchner Live-Aufnahmen zum 75. Geburtstag des Pianisten Keith Jarrett
Moderation und Auswahl: Ulrich Habersetzer