Rolf Kühn hat den Jazz nicht nur in Deutschland in den letzten mehr als 60 Jahren geprägt und er hat mit seinem weiten musikalischen Horizont unzählige Musikerinnen und Musiker inspiriert. Am 29. September feiert er seinen 90. Geburtstag. Eine Verneigung vor einer Legende.
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Er stand am Kühlschrank. Ganz in schwarz gekleidet und im nächsten Moment war er auch schon verschwunden. Im Kasino war das. So heißt die Kantine im ehemaligen Gebäude des RIAS in Berlin-Schönberg. Dort hat heute Deutschlandfunk Kultur seine Heimat und Anfang des Jahres 2010 war ich als Hospitant bei diesem Radiosender. "Das ist Rolf Kühn", raunte ein Kollege am Mittagstisch im Kasino und zeigte in Richtung des Kühlschranks, "Der ist öfter hier. Ich glaube, der hat hier einen Proberaum." Rolf Kühn, diese lebende Legende, hier im Deutschlandfunk? Ich musste ihn zum Interview treffen, mein Sportsgeist war geweckt. Jeden Tag kam ich um dieselbe Zeit ins Kasino und hielt Ausschau, versuchte mehr herauszubekommen: Was macht er hier, wo versteckt er sich in diesem altehrwürdigen Gebäude? Und dann war es soweit, ich entdeckte ihn, wieder im Kasino und stürzte auf ihn zu, stellte mich vor und bat ihn um ein Interview. Wir konnten aber zunächst keinen Termin finden, so schrieb er mir auf ein Stück Papier in unnachahmlich eleganter Handschrift seine Adresse und seine Telefonnummer, ich solle mich nächste Woche melden, wir würden schon zusammenkommen. Dieses Papierstück habe ich immer noch.
Klarinettist und Jazzlegende Rolf Kühn | Bildquelle: © Harald hoffmann Wir fanden einen Termin und einen Ort. Seinen Proberaum im RIAS-Gebäude. Im ehemaligen Regieraum des Studio 10 übte Rolf Kühn zu dieser Zeit regelmäßig. Wir betraten zum vereinbarten Termin den Raum und blickten durch eine Glasscheibe hinunter in ein großes mit Möbeln und Gerümpel vollgestelltes Studio. "Mit Albert Mangelsdorff habe ich dort unten aufgenommen." Das waren, nach seiner Begrüßung, die ersten Worte und dann sprachen wir zwei Stunden lang über sein Leben, sein Wirken, seine Stationen, seine Musik und seither verfolgt mich immer wieder ein Gedanke: Nur eine Minute lang all die Erinnerungen vor Augen haben, die Rolf Kühn hat. Einmal sehen, was er gesehen hat. Unbeschreiblich!
Kurt Kühn, Rolfs Vater, arbeitete in den 20er Jahren als Artist und trat zusammen mit seinem Bruder unter dem Namen "Die Brüder Kühn – die kühnen Brüder" auf. Rolf kam am 29. September 1929 in Köln zur Welt, wuchs aber in Leipzig auf, dort war die Familie kurz nach Rolf Geburt gezogen. Er wollte auch Artist werden und da war ein Instrument als "Zusatz-Qualifikation" hervorragend. Geige, Akkordeon, Klavier und schließlich Klarinette waren die Instrumenten-Stationen. Die 30er und 40er Jahre waren aber eine schwere Zeit für die Familie. Rolfs Mutter Grete war Jüdin und sie lebten in ständiger Angst. Der Vater durfte nicht mehr auftreten, da er sich nicht von seiner Frau scheiden lassen wollte und die finanzielle Lage der Familie wurde prekär. So verstärkte sich bei Sohn Rolf der Fokus auf die Musik.
Mit neun oder zehn, so erzählt es Rolf in dem beeindruckenden Dokumentarfilm "Brüder Kühn - Zwei Musiker spielen sich frei" von Stephan Lamby, verdiente er etwas Geld dazu, indem er bei Beerdigungen Harmonium spielte. Rolfs musikalisches Talent wurde zu der Zeit schon entdeckt und er erhielt im Geheimen Unterricht von Profis aus dem Leipziger Gewandhaus-Orchester, da er als Halbjude nicht aufs Konservatorium gehen durfte. Noch im Krieg, 1944, kam Rolfs kleiner Bruder Joachim zur Welt. Nach 1945 spielte Rolf dann als Profimusiker Tanzmusik und da kam es zu einer Begegnung, die Rolf Leben verändern sollte: Die Pianistin Jutta Hipp sprach Rolf bei einem Auftritt an: "Du spielst ja ganz nett", soll sie gesagt haben. "Ich hätte eine tolle Platte für dich. Was machst du denn am Sonntag?" Rolf darauf: "Üben, wie immer". Jutta Hipp: "Komm doch raus, ich wohne in Markkleeberg mit meinen Eltern und dann spiele ich Dir diese Platte vor". Das war Benny Goodmans "Hallelujah", und durch diese Musik wurde Rolf vollends für den Jazz entflammt. Er lernte jeden Ton, den Goodman in dem Stück spielte, auswendig. Rund zehn Jahre später war Rolf Kühn Mitglied in der Bigband des King of Swing.
Über verschiedene Orchester wurde Kühn Erster Saxophonist im RIAS-Tanzorchester in Berlin. Aber die Klarinette war immer sein eigentliches Instrument. Von Berlin zog es ihn 1956 dann nach New York. "Alles lief ja überraschend gut, also bin ich sechs Jahre geblieben und ich fand es waren mit die wichtigsten Jahre im Leben. An Ort und Stelle wirklich mit den Leuten zu spielen, die man viele Jahre von Platten her kannte. Und es hat sich eine Menge Gelegenheit ergeben, mit ihnen spielen zu können." Benny Goodman, Tommy Dorsey, Cannonball Adderley, Chet Baker – das sind nur einige der Jazzgrößen, mit denen Rolf Kühn in den USA spielte. Auch mit dem heute eher vergessenen Klarinettisten Bob McGarry trat Kühn auf, sogar in der Fernsehshow "Art Ford’s Jazz Party". Dort spielten die beiden Klarinettisten "Bei mir bist du schön".
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1958-10-2 Art Ford-6: Rolf Kuhn + Bob McGarry - Bei Mir Bist Du Schön
1961, zurück in Deutschland, wurde Rolf Kühn Leiter des NDR-Fernsehorchesters in Hamburg. Außerdem weitete er seinen musikalischen Horizont und begann bei Charles Mackerras ein Dirigierstudium: "Ich dachte, jetzt gehe ich der Sache auf den Grund und lerne dirigieren von Grund auf ,und da war Charles Mackerras ein hervorragender Lehrer. Er hat die Partitur auf dem Klavier gespielt und ich habe ihn dirigiert. Er hat mich unterbrochen und gesagt: 'Was du jetzt gemacht hast als Dirigent, da wird das Orchester so und so reagieren. Damit wirst du sie nie zusammenkriegen.' Und dann hat vorgemacht, was er machen würde als erfahrener Operndirigent. Eine bessere Schule kann man nicht haben."
Rolf und Joachim Kühn | Bildquelle: Jens Herrndorff
1966 verhalf Rolf seinem jüngeren Bruder Joachim, der zu einem gefragten und aufsehenerregenden Pianisten geworden war, zur Flucht aus der DDR. Das gelang durch die Hilfe eines Freundes, des Pianisten Friedrich Gulda. "In Berlin in der sogenannten 'Badewanne' in der Nürnberger Straße, da haben wir sehr oft gejammt, eigentlich jeden Abend, wenn er in Berlin war. Das hat ihm offensichtlich Freude gemacht." Der Starpianist Gulda organisierte 1966 in Wien einen Jazzwettbewerb, und auf Bitten Rolfs lud er Joachim als Teilnehmer aus der DDR dorthin ein. Joachim führ nach Wien, nahm teil, reiste aber nicht zurück in die DDR, sondern nach Westdeutschland und blieb dort.
Im selben Jahr spielten die Brüder Kühn bei den Berliner Jazztagen und es wurde ein Sensationserfolg: "In dem legendären Sportpalast, ein gefährlicher Saal, er fasste ungefähr 8.000 Leute, und wenn man diese Masse als Gegner hatte, war das sehr schlecht. Es war eines der ersten Jazzfestivals, die ich mit Joachim und unserem damaligen Quartett spielte in einem rein amerikanischen Programm: Freddie Hubbard, Dave Brubeck, Sonny Rollins waren im Konzert und wir als einzige deutsche Gruppe. Ich weiß nicht, was an diesem Abend passierte, es war plötzlich Magie. Die Leute flippten aus und waren begeistert. Nach uns sollte Dave Brubeck spielen und Brubeck konnte nichts dafür, er fing wie üblich mit 'Take five' an und es war im Saal ein einziges Buh-Konzert."
Nach diesem Konzert wurden die Kühn-Brüder auch für das legendäre Newport Jazz Festival gebucht und sie reisten 1967 gemeinsam in die USA – prägende und turbulente Zeiten. Etliche großartige Plattenproduktionen folgten, viele für das im Schwarzwald ansässige Label MPS. Rolf komponierte mehr und mehr für Film und Fernsehen, war mit der Schauspielerin Judy Winter verheiratet, arbeitete als Komponist auch im Klassikbereich. Aber er bleib dem Jazz treu und veröffentlichte immer wieder Platten, auch zusammen mit seinem Bruder Joachim. Wenn Rolf, der ungemein stilvoller Gentleman, und Joachim, der herrlich chaotische Freigeist, aufeinandertreffen, werden sie zu einer unglaublich spannenden, vor Neugier sprühenden musikalischen Einheit, in der alles möglich ist.
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Jazzfest Bonn 2014: Beethoven-Haus, ROLF UND JOACHIM KÜHN
Melanie und Rolf Kühn bei der Verleihung des Fred Jay Preises an Inga Humpe in Berlin 2018 | Bildquelle: picture-alliance/dpa Jedes Jahr treffe ich Rolf mit seiner jetzigen Frau Melanie beim Jazzfest Berlin. Immer ist er neugierig darauf, was die Jungen der Szene so machen. Der Schlagzeug-Derwisch Christian Lillinger spielt in einer Band von ihm, die Hamburger Newcomer-Bassistin Lisa Wulff in einer anderen. Er geht auf Tournee, spielt Konzerte, nimmt auf, plant Neues. Überall wo Rolf Kühn erscheint, hat er seine Ohren ganz weit offen, sei es für ein anregendes Gespräch oder für interessante Klänge. Ein Gentleman des Jazz, der so viel erlebt und gehört, so viel durchlitten und gefeiert hat. Dabei scheint seine Neugier nur immer noch größer geworden zu sein und seine Musikauffassung immer noch freier.
Der Elegante mit den Kanten wird 90 Jahre alt, und seine Klarinettentöne haben immer noch diese klaren Konturen, diese Unbedingtheit, diese strahlende Eleganz. Er hat Grundsteine für den Jazz in Deutschland gelegt und tut es immer noch.
Samstag, 28. September, 18:05 Uhr – Jazz und mehr
"Der Elegante mit Kanten"
Montag, 30. September, 23:05 Uhr – Jazztime
Zum 90. Geburtstag von Rolf Kühn
Mittwoch, 02. Oktober, 23:05 Uhr – Jazztime aus dem Studio Franken
"Always Kühn, Always Young"
Sendung: "Leporello" am 27. September 2019 ab 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK