Der Klarinettist Rolf Kühn, der am 29. September 2019 seinen 90. Geburtstag feiert, ist ein Musiker, der stets am Puls des Geschehens geblieben ist. Und fast jährlich hat er in seinen hohen Achtzigern neue CDs aufgenommen - mit anderen Spitzenmusikern, die oft zwei Generationen jünger sind als er. Alles von ihm sollte man sich anhören. Hier aber drei Tipps zum Annähern.
Bildquelle: Harald Hoffmann
Diese - auf CD wiederveröffentlichte und aktuell erhältliche - Aufnahme entstand drei Jahre nach dem Bau der Mauer. Sie wurde im Ostberliner AMIGA-Studio aufgenommen. "AMIGA" war das Monopol-Plattenlabel der DDR, das seit 1954 zum "Volkseigenen Betrieb Deutsche Schallplatten" gehörte und produzierte später so berühmte Pop-Platten wie "Der blaue Planet" der Rockgruppe Karat. Der in Leipzig aufgewachsene Rolf Kühn lebte damals bereits seit langem im Westen, hatte auch seine Zeit in den USA, unter anderem bei Benny Goodman, schon hinter sich. Dass er trotzdem bei dem DDR-Label veröffentlichen konnte, klingt kurios. Aber mit Hilfe des Jazzmoderators Karlheinz Drechsel konnte das Projekt eingefädelt werden. Hier traf Rolf Kühn im Studio mit seinem 15 Jahre jüngeren Bruder, dem Pianisten Joachim Kühn, zusammen, der damals noch in der DDR lebte. Die beiden Brüder waren eigentlich Co-Leader des Quintetts, in dem der polnische Saxophonist (und sonst auch als Geiger bekannte) Michal Urbaniak, der Bassist Klaus Koch, damals wichtigster musikalischer Partner Joachim Kühns in der DDR, und der polnische Schlagzeuger Czeslaw Bartkowski zusammenspielten. Aber da Joachim Kühn in jenen Jahren von der DDR-Kulturpolitik in seiner Eigenschaft als Avantgardemusiker keine Unterstützung erfuhr, konnte Joachim Kühn offiziell nur als Sideman in dieser Produktion auftauchen - und der im Westen lebende Rolf Kühn war der Leader. Das ist eine im Rückblick einigermaßen absurde Geschichte - doch sie warf eine Schallplattenaufnahme ab, die auch beim heutigen Hören sofort fesselt. Das langsame Titelstück "Solarius" überwältigt nach 34 Sekunden mit einem faszinierend klaren, lang angehaltenen Klarinettenton, der dann in eine atmosphärisch bezwingende Melodie führt. Ohne jeden lieblichen Zierrat spielte Rolf Kühn hier und in anderen Stücken, in einer damals hochmodernen Ästhetik, die sich von älteren Vorbildern gelöst hatte – und im Hintergrund lösen sich Klavier, Bass und Schlagzeug mit hoher Eleganz von allen damals althergebrachten Klischees: eine wache Kommunikation mit ganz eigenem Profil. Kein Free-Jazz, wie ihn damals musikalische Bilderstürmer aus den USA vorgemacht hatten, aber eine Musik mit Kanten und prägnanten Konturen. In Stücken wie der Volkslied-Bearbeitung "Sie gleicht wohl einem Rosenstock" fand sie eine eigene Entsprechung der trance-haften Intensität, wie sie in den USA das Quartett von Saxophonist John Coltrane mit Pianist McCoy Tyner entwickelt hatte. Eine Musik, die man heute als einen frühen Meilenstein des deutschen (in diesem Fall Ost und West miteinander verbindenden) Jazz hören kann. Ein musikalisches Werk von Ewigkeitswert. ("Solarius", AMIGA-Jazz 0208047CIT, edel records, LC 01666.)
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Rolf Kühn Quintett - Lady Orsina
Hier sind ganz viele Facetten des Musikers Rolf Kühn vereint. Zum 85. Geburtstag des Klarinettisten 2014 erschien diese Kompilation. In ihr kann man auf klangliche Zeitreisen gehen, die Stück für Stück in neue Sound-Landschaften führen. Das Album beginnt mit einer Aufnahme, in der Rolf Kühn mit dem Saxophonisten Dave Liebmann, dem Gitarristen Chuck Loeb und dem herausragenden jungen Rhythmusgespann Dieter Ilg (Bass) und Wolfgang Haffner (Schlagzeug) zusammenspielt, führt den Klarinettisten dann im Duo mit dem großen französischen Pianisten Martial Solal zusammen (aufgenommen 2001, als Kühn 71 und Solal 73 war), später hört man Partner wie Trompeter Till Brönner, Saxophonist Lee Konitz, Free-Jazz-Ikone Ornette Coleman, den Bruder und Pianisten Joachim Kühn und sogar den Sänger Max Raabe auf diesem Album. Highlights gibt es darauf viele. Wenn sich Kühn und der Tenorsaxophonist Michael Brecker in dem Stück "Second Visit" im Jahr 1999 gegenseitig als Solisten nacheinander respektvoll und einander inspirierend in allerhöchste Ebenen des Ausdrucks schrauben, ist das einer. Aber auch der intime Dialog von Rolf Kühns Klarinette und Albert Mangelsdorffs Posaune in dem Stück "Fractions" (aufgenommen 1997) ist ein Ausnahme-Moment: Wie sinnlich kann Musik sein, die in der Grundanlage ziemlich abstrakt ist! Und wie spannend ist es, zwei Blasinstrumenten in einem gänzlich unbegleiteten Zwiegespräch zu folgen! Gleich daran schließt sich ein Duo mit Lee Konitz an - ganz anders und ähnlich aufregend. In einer weiteren Aufnahme von 1997 trifft Rolf Kühn mit zwei großen amerikanischen Kollegen seines Instruments zusammen: Eddie Daniels und Buddy de Franco, jeder spielt ein Solo - und man kann beim Hören fast nicht schnell genug Atem holen. Der näselnd-charmante Brillantine-Gesang von Entertainer Max Raabe in dem Schmachtfetzen "When You Wish Upon A Star", den Rolf Kühn nach der Einleitung des Sängers als sehr schmissige Nummer hier als Solist der RIAS Big Band spielt, ist eine besondere Pointe dieses Albums. ("Timeless Circle", Intuition Records INT 3441 2, LC 08399.)
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Second Visit (Remastered 2014) (feat. Wolfgang Haffner, Michael Brecker, John Schröder & Detlev...
Auch in dieser sehr jungen Produktion kann man die besondere Vielseitigkeit Rolf Kühns erleben - und seinen offenbar nie versiegten guten Geschmack als Musiker und Interpret. Das Spektrum reicht von klassischen Einflüssen bis hin zur brasilianischen Musik. Als diese CD fertig, aber noch nicht erschienen war, sagte der Pianist Joachim Kühn in einem BR-Interview: "Demnächst kommt die beste Platte raus, die mein Bruder je gemacht hat". Rolf Kühn hat sehr viele eigentlich "beste" Platten gemacht, und diese (wie auch die neuere, "Yellow + Blue") ist auf jeden Fall eine auf den ganz vorderen Rängen. Die musikalischen Partner Rolf Kühns sind hier zum Teil ganz unerwartete Musiker - aber auch Joachim Kühn ist, sehr zu Recht, wieder dabei. Gleich am Anfang entspinnt sich ein ruhiger, kammermusikalischer Dialog mit der Cellistin Asja Valcic: Das ist klassische Musik und Jazz zugleich, und nirgends ein Kompromiss. In anderen Stücken trifft Rolf Kühn auf den brasilianischen Mandolinen-Virtuosen Hamilton de Holanda, und die beiden finden viele klanglich ungemein reizvolle Farben zwischen zarter Annäherung und flitzendem Tanz der Instrumentenstimmen. Mit dem Oboisten Albrecht Mayer treibt Kühn in zwei Stücken ein ungemein nuancenfeines Spiel der Klangfarben, die sich aneinanderschmiegen - und der Stimmen, die einander lustvoll umranken. Mit dem brasilianischen Sänger und Beat-Box-Artisten Ed Motta kommen dann plötzlich ganz unerwartete Farben mit ins Spiel, ohne jemals fehl am Platz zu wirken. Und in zwei Stücken ist auch einer der erstaunlichsten jungen Musiker aus der deutschen Szene mit von der Partie: der unglaublich virtuose, höchstbegabte Schlagzeuger Christian Lillinger, der seine ganz eigenen, eruptiven Energie-Impulse mit einbringt und dann wieder ganz feine Schlagzeug-Momente schafft. Und wer Rolf Kühns Werdegang kennt, der wundert sich nicht, dass gerade dieser Musiker bereits 2008 in der Band des Klarinettisten spielte; Kühn war damals 78, Lillinger 24. Wenn Kühn mit den viel jüngeren Musikern seiner Unit zusammenspielt, sagt er nicht umsonst: "Wir sind einfach vier junge Typen, die neugierig sind". In puncto Neugier war Rolf Kühn stets einer der Jüngsten, egal in welchem Lebensjahrzehnt. ("Spotlights", MPS 0211426MS1, LC 01666.)
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