Er flüsterte, er hechelte, er schnatterte: Und alles war Musik. Der US-Amerikaner Al Jarreau war seit den 1970er Jahren einer der erstaunlichsten Gesangskünstler des Jazz und der Popmusik. Jetzt starb er überraschend, einen Monat vor seinem 77. Geburtstag. Vor wenigen Tagen hatte er wegen "Erschöpfung" seinen Rückzug aus dem Musikgeschäft bekanntgegeben.
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Noch im November 2016 war er mit der NDR-Big-Band in der Münchner Philharmonie zu erleben. Und Berichterstatter schilderten ein bewegendes Konzert, das mit einem besonders berührenden "Summertime" zu Ende ging. Fotos zeigen einen ganz in Schwarz unter einem weißen Jackett gekleideten Bühnenstar, der mit grazilen Bewegungen ungemein schlanker Hände die Luft zu Tönen zu formen schien. Und dessen Gesichtsausdruck ein völliges Versunkensein in der Musik erahnen ließ. Das war seine Stärke: Klang zu formen wie kein anderer vor ihm. Und in Klang aufzugehen sowie zugleich den Klang in sich aufgehen zu lassen. Al Jarreau stand für Musik, die Körper wurde, ein Körper, der Musik wurde.
Al Jarreau in den 1970er Jahren | Bildquelle: picture-alliance/dpa Ihn live zu hören war stets ein verblüffendes Erlebnis. Doch anders als man glauben könnte, war seine Kunst nie blanke Artistik. Wenn Al Jarreau mit Worten, Silben oder einfach nur Lauten in atemberaubender Präzision jonglierte, dann überkam die Hörer nicht nur Staunen über so großartige Fertigkeiten, sondern der Tanz der Töne konnte einen Schauer von Gefühlen auslösen.
Heiß und kalt konnte einem werden - und eben nicht nur vom Tempo und von der Farbenvielfalt rasanter Tonfolgen, die man eigentlich für unsingbar halten würde, sondern auch von ihrer Eindringlichkeit. Al Jarreau strahlte eine Musizierlust und eine Intensität aus, die sofort fesselten. Seine Interpretationen: musikalische Hochseiltänze mit Seele.
Jarreau, der eigentlich Alwyn Lopez Jarreau hieß und 1940 in Milwaukee im amerikanischen Bundesstaat Wisconsin geboren wurde, startete seine Musik-Karriere relativ spät. Mit 35 Jahren. Das wundert viele, die seine ungewöhnliche Stimme je gehört haben. Und die in Texten über ihn lasen, dass er schon mit vier Jahren Lieder aus Gershwins Oper "Porgy and Bess" auswendig gekonnt haben soll. Ebenfalls mit vier, so heißt es über ihn, sei er zum ersten Mal solo in einer Kirche aufgetreten - als Sohn einer Kirchenorganistin und eines Pfarrers. Er war das fünfte von sechs Kindern dieser in armen Verhältnissen lebenden Familie.
Nach der Schulzeit studierte er Psychologie, später nahm er eine Stelle als Sozialarbeiter in San Francisco an - und immer nebenbei sang er. Ganz auf die Musik konzentrierte er sich erst Ende der Sechziger Jahre. Seinen ersten Plattenvertrag bekam Jarreau 1975, als er im Vorprogramm des Pianisten Les McCann in Hollywood auftrat und von einem Talent-Scout entdeckt wurde. Er nahm seine erste LP "We got by" auf.
Doch richtig befeuert wurde sein Durchbruch in Deutschland. Am 12. März 1976, an seinem 36. Geburtstag, trat Jarreau im Hamburger "Onkel Pö" auf, wurde vom Norddeutschen Rundfunk mitgeschnitten. Nach den Berliner Jazztagen im November 1976 wurde Jarreau als "Entdeckung des Jahres" gefeiert, er füllte Hallen, die über 2000 Besucher fassten - und das Magazin "Der Spiegel" schrieb: "Dieser Mann hat ein ganzes Orchester in seinem Hals".
Von Jarreaus Europa-Tournee im Januar und Februar 1977 wurde noch im Mai desselben Jahres das Live-Album "Look to the rainbow" veröffentlicht. Diese damalige Doppel-LP gewann ein Jahr später einen Grammy als "Best Jazz Vocal Album". Sie enthielt unter anderem eine rund siebenminütige Version des Paul-Desmond-Dave-Brubeck-Hits "Take Five": Darin ließ Jarreau mit der Stimme erzeugte Rhythmen, Silben und Klangfarben so verblüffend tanzen, dass er damit das Publikum auf der ganzen Welt mitriss.
Erst nach diesem Erfolg war auch der große Durchbruch in den USA geschafft. Und Jarreau legte nach. Auch in weiteren Jahren folgten Grammys. Insgesamt sieben gewann Al Jarreau bis 2007 - im Jahr 1982 sogar für die beste männliche Vokal-Leistung in den Bereichen "Jazz" und "Pop": Da hatte er mit dem Album "Breakin' Away" die Quadratur des Kreises geschafft: in zwei Kategorien zu überzeugen, die sich nur selten so glücklich zusammenfügen.
1986 in der Frankfurter Eissporthalle | Bildquelle: picture-alliance/dpa Al Jarreau war ein Sänger, der Stilgrenzen nicht nur überwand, sondern sie auch unnötig machte. Seine Aufnahmen von Popsongs wie die in inniger Schönheit gesungene Elton-John-Komposition "Your Song" auf dem Album "Glow" von 1976 faszinieren nicht weniger als das auf derselben LP erschienene, von Jarreau selbst komponierte Stück "Hold on me", in dem sich a cappella mehrere übereinander gelegte Gesangsstimmen virtuos umranken - ein frühes Meisterstück als Ein-Mann-Chor.
Musikkritiker bemäkelten gern seine Pop-Produktionen, etwa "L is for Lover" von 1986, fanden die Songs zu seicht (was manche waren) und den Sound überproduziert (was in den Achtzigern ebenfalls stimmte) und wünschten sich einen Jarreau, der sich wieder stärker dem Jazz zuwandte. Das tat er 2004 auch mit dem Meisterwerk "Accentuate the Positive", in dem er Klassiker wie "The Nearness of You" und "My foolish Heart" mit so renommierten Musikern wie Bassist Christian McBride, Schlagzeuger Peter Erskine und Hammond-Organist Larry Goldings interpretierte.
Die große Musikalität Al Jarreaus war aber in jedem musikalischen Gewand zu spüren - auch wenn sie in den jazzigeren mehr Luft hatte und weniger von Begleit-Instrumenten zugedeckt wurde. Diese von den Bass-Registern bis in sirrende Falsett-Höhen hinreißend punktgenaue Stimme ließ jeden Song funkeln. Jarreau erweiterte mit seinem Gesangsstil eine Tradition, die etwa der Sänger und Texter Jon Hendricks mit seinen Kollegen des Trios Lambert, Hendricks & Ross vorgeprägt hatte - und die von den 1980er Jahren an der luftig-experimentierfreudige Bobby McFerrin noch ein Stück weitertrieb.
Beim 41. Jazz Festival von Montreux 2007 | Bildquelle: picture-alliance/dpa Al Jarreau, dieser lebende Synthesizer, der von zarten Flötentönen bis zum trockenen Trommelsound einer Conga alles in atemberaubender Präzision nur mit der Stimme nachahmen konnte, war der vermutlich perfekteste von allen. Er war die personifizierte Lust am Gesang und an der Kommunikation mit Tönen. Seine Stimme - und erst recht seine viele Stimmungen in wenigen Sekunden durchlaufende Mimik sowie seine körperliche Präsenz, die den Tanz der Töne zugleich sichtbar machten - werden vielen Musikfans fehlen. Töne, Gesicht, Hände: bei Al Jarreau ein Gesamtkunstwerk, das viele unterschiedliche Musikfans auf der Welt über Jahrzehnte berührte.
In memoriam Al Jarreau.
Beseelt, virtuos und positiv gestimmt - der amerikanische Ausnahmesänger unter anderem in Aufnahmen vom Jazzfest Berlin 1976 und von der Jazzwoche Burghausen 1997. Moderation und Auswahl: Beate Sampson