Archie Shepp ist ein kantiger Zeitgenosse. Seine Töne sind oft schräg und voll Spannung, ebenso kann es auch im Interview mit ihm sein. Die Würdigung eines Mannes, vor dem man sich fürchten kann, aber eigentlich nicht muss.
Bildquelle: Arne Reimer
Dieses Foto von Archie Shepp stammt aus dem Bildband "American Jazz Heroes Volume 2" des Leipziger Fotografen Arne Reimer.
Er hat Legenden des Jazz besucht und in deren Zuhause fotografiert. Die Fotos und Geschichten über die Besuche sind in zwei Bildbänden erschienen. Dafür wird ihm in diesem Jahr der Sonderpreis des ECHO JAZZ verliehen. Das Bild hat der Fotograf BR-KLASSIK zur Verfügung gestellt.
Archie Shepp sorgt für Nervosität. Der Mann mit dem kernigen, herausfordernden Blick gilt nicht unbedingt als einfach. Es gibt Geschichten. Er soll Interviews abgebrochen haben, er soll Veranstalter wegen zu kleiner Backstage-Räume beschimpft haben, all solche Sachen. Da wird man natürlich nervös, wenn man zehn Minuten Interviewzeit bekommt.
Bildquelle: picture alliance / POP-EYE Es gibt tausend Dinge: Seine Anfangszeit als Rhythm & Blues-Saxophonist in Philadelphia. Wie er dort seinen großen Mentor und sein Vorbild, John Coltrane, kennenlernte. Über sein Literaturstudium, das er 1955 begann und 1959 abschloss, über seine Zeit mit Freejazz-Pionier Cecil Taylor. Oder über sein Verhältnis zum Blues – danach frage ich als erstes. Die Antwort ist voll von afroamerikanischer Geschichte: "Der Blues, das ist die Musik meiner Leute. Das ist mein Leben, diese Musik geht zurück bis zu den Sklavenschiffen. Diese Musik ist unser Leben." Das sagte Archie Shepp im Interview am 3. November 2012 im Haus der Berliner Festspiele. Archie Shepp trat an diesem Abend gemeinsam mit der Hammondorganistin und Pianistin Amina Claudine Myers auf. Im Interview ging es auch um John Coltrane und um das Saxophon als Sprachrohr, das Shepp in Konzerten immer wieder durch seinen Gesang ergänzt.
Zehn Minuten und zwei Sekunden sind vorüber, unser Interview auch. Er steht auf, reicht mir die Hand und sagt: "Tell me your name again." Er will nochmal wissen, mit wem er da gesprochen hat. Keine Spur von Ablehnung oder Arroganz. Das nervös-machende Bild vor dem Interview ist völlig verschwunden. Er ist einer, der etwas zu sagen hat. Mit seiner Musik und mit seinen ganz konkreten, packenden Worten.
Nicht umsonst zählt er zu den großen Jazz-Intellektuellen. Zum Buch "Black Talk" des Autors Ben Sidran hat Archie Shepp ein Vorwort geschrieben, und allein diese knapp sechs Seiten machen dieses Buch über den afroamerikanischen Jazz zu einem absoluten Standardwerk über die improvisierte Musik Amerikas und zu einem unverzichtbaren Bestandteil jeder ernstzunehmenden Musikbibliothek.
Bildquelle: picture alliance / Fred Toulet/Leemage Seit mehr als 20 Jahren lebt der Saxophonist in Paris. Dort hat er seine Heimat gefunden. Archie Shepp ist nichtsdestoweniger immer noch viel auf Tournee und spielt, so viel er kann. Seine Musik wird allgemein als Free Jazz bezeichnet, jedoch spürt man, egal, wie frei er spielt, immer die Wurzel des Blues. Sein Ton ist äußerst rau, seine Intonation ist alles andere als rein und verlässlich. Die Töne haben nicht unbedingt einen Kern, sie umkreisen eher die exakte Tonhöhe. Daran kann man sich stören, aber man kann sich auch von der unzähmbaren Wucht und Intensität dieser Töne einfangen lassen. Archie Shepp würde mit seiner Spieltechnik wahrscheinlich an keiner Musikhochschule mehr einen Studienplatz bekommen, aber mit der Aussagekraft seiner Musik stellt er ganz viele scheinbar perfekte Spieler in den Schatten. Auch sind seine Live-Konzerte immer echte Erlebnisse. Ich habe selten einen authentischeren Musiker erlebt.
1. November 2014, Allerheiligen. In Berlin ist das kein Feiertag, trotzdem ist eine spirituelle Stimmung zu spüren. Archie Shepp tritt gemeinsam mit Jasper van't Hof in der Berliner Gedächtniskirche auf. Saxophon und Orgel, intensiv, schwerelos und trotzdem unendlich geerdet. Nach dem Konzert gibt es in den Katakomben der Kirche die Möglichkeit zum Interview. "Wir kennen uns", sagt Archie Shepp und dann spricht er von seinem Verhältnis zur Kirche.
Er ist in der Kirche aufgewachsen, seine Großmutter Mama Rose hat ihn am Sonntag immer mit in den Gottesdienst genommen, am Montag gab es Treffen der jungen Gemeindemitglieder und am Mittwoch Prayer Meetings. Das war auch der Ort, an dem er zum ersten Mal aufregende Musik hörte.
Danach geht es um Dr. King, voll Verehrung und Respekt erzählt der Saxophonist von Martin Luther King, den er leider nie persönlich kennenlernen konnte. Wieder erzählt er von John Coltrane, der die weltliche und geistliche Musik verbunden hat, und dann kommt er auf den Klavierunterricht in seiner Kindheit zu sprechen. Er sollte Chopin üben, spielte aber lieber Boogie Woogie.
All diese Klänge, Erlebnisse und Begegnungen fließen in seine Musik ein. Er hat in ganz unterschiedlichen Besetzungen gespielt, mit Streichorchester aufgenommen, mit Rappern, mit Singersongwritern. Aber immer spielt Archie Shepp seinen Blues, und immer hat dieser Blues eine beeindruckende, archaische Kraft.
BR-KLASSIK widmet dem großen Saxophonisten die "Classic Sounds in Jazz"-Sendung am 24. Mai 2017 ab 19.05 Uhr