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Das Art Ensemble of Chicago wird 50 "Urbane Buschmänner"

Als diese Musiker auftauchten, sah Jazz plötzlich anders aus. Er wurde zum afro-amerikanischen Theater. Das Art Ensemble of Chicago feiert 50. Geburtstag – mit einer umfangreichen CD-Box und mehreren Konzerten, unter anderem beim Jazzfest Berlin.

Art Ensemble of Chicago | Bildquelle: Ralph Quinke / ECM Records

Bildquelle: Ralph Quinke / ECM Records

Avantgarde-Jazz in den 1960er und 1970er Jahren: Meist klang er wild und für ungeübte Ohren eher abweisend. Ungestüme Musik von Leuten, die sich viele Minuten lang mit sehr abstrakten Tönen die Lunge aus dem Hals bliesen oder halbstündige Stücke ohne ein erkennbares musikalisches Thema spielten. Die auf der Bühne so aussahen, als wähnten sie sich im Übungsraum: kaum eine Kontaktaufnahme mit dem Publikum. Da wirkte es völlig anders, als plötzlich eine Avantgarde-Band aus Chicago auftauchte, die ihren brandaktuellen Jazz auf afrikanische Wurzeln zurückführte. Das hörte man – und sah man.

Jazz-Theater der bemalten Gesichter

Das Art Ensemble of Chicago führte in andere Welten. In bunten Gewändern und mit prachtvoller, afrikanisch anmutender Gesichtsbemalung standen und tanzten die Musiker dieser Band auf der Bühne – inmitten einer Unzahl verschiedener Blas- und Schlaginstrumente. "From the Ancient to the Future" lautete schon früh der Slogan dieser Band, und statt des ursprünglich abwertenden Worts Jazz verwendete sie für ihre Töne den Begriff "Great Black Music". Die Musik des Art Ensembles war von Beginn an großstädtisch explosiv mit turbulenten Free-Jazz-Improvisationen – von Blas-Instrumenten, die in quietschender und growlend-röhrender Intensität ihr Anders-Sein hinausschrien. Doch dorthinein mischte sich etwas Unerwartetes: Klänge von archaischer Sinnlichkeit. Da groovten sich Trommeln minutenlang ein, trillerten hohe Pfeifen, mischten sich rufende und raunende Menschenstimmen ins Gesamtbild, sandten Naturflöten weiche Locklaute aus, klackerten urtümliche Holz-Schlaginstrumente. Und manche der Stücke erklangen wie eine große lange Melodien aus ferner und doch ganz naher Zeit.

Mehrere hundert Seiten Musikgeschichte

Lester Bowie (Trompete), Joseph Jarman (Saxophone, Flöten und anderes), Roscoe Mitchell, (Saxophone, Flöten und weitere Instrumente), Malachi Favors Maghostut (Bass, Percussion und anderes), Famoudou Don Moye (Percussion und Stimme). Aus diesen fünf Musikern setzte sich lange Zeit das Art Ensemble of Chicago zusammen. Die Band besteht in anderer Besetzung heute noch. Zwei der Mitglieder sind bereits verstorben – Trompeter Lester Bowie 1999 und Bassist Malachi Favors 2004. Für sie kamen Trompeter Hugh Ragin und Bassist Jaribu Shahid hinzu. Am 2. November 2018 wird die aktuelle, sogar auf neun Mitglieder erweiterte Ausgabe des Art Ensemble of Chicago beim Jazzfest Berlin zu erleben sein. Kurz vorher, am 26. Oktober, bringt das in München ansässige Label der Band eine Box aus 18 Alben heraus, verteilt auf 21 CDs, denn es sind Doppel-Alben dabei: "The Art Ensemble of Chicago and associated ensembles". Die Box enthält auch ein sehr ausführliches Booklet von mehreren hundert Seiten.

Ihre Musik zu erleben, hat meine Ordnung erschüttert
Pianist Vijay Iyer über das Art Ensemble of Chicago

Der 1971 geborene amerikanische Pianist Vijay Iyer, einer der aktuell weltweit herausragenden Jazzmusiker, ist einer der Musiker aus jüngeren Generationen, die sich in dem ausführlichen Booklet über den großen Einfluss des Art Ensembles of Chicago auf ihre Musik äußern. "Ihre Musik zu erleben, hat meine Ordnung erschüttert", schreibt Iyer. "Ihre Einheit der Absicht, ihr methodisches Auftreten, ihr unerbittliches Zeitgefühl: Mir war nie eine vergleichbare Verbindung zwischen menschlichen Wesen begegnet." Iyers Anmerkungen oder auch diejenige des Pianisten Craig Taborn zeigen, wie weit und nachhaltig die Kreise sind, die das Art Ensemble of Chicago gezogen hat.

50 Jahre sinnliche Avantgarde-Musik

Malachi Favors Maghostut  | Bildquelle: Roberto Masotti / ECM Records Malachi Favors Maghostut | Bildquelle: Roberto Masotti / ECM Records Seit 50 Jahren besteht das Art Ensemble of Chicago unter diesem Namen. Den gaben sich die Musiker 1969 während einer Frankreich-Tournee. Bereits 1966 existierte ein Vorläufer: das "Roscoe Mitchell Art Ensemble", in dem bereits Trompeter Lester Bowie und Bassist Malachi Favors Maghostut mitspielten. 1967 kam dann Saxophonist Joseph Jarman dazu – und 1970 schließlich der Schlagzeuger Famoudou Don Moye.
In der CD-Box kann man neu eintauchen in die Musik von Alben wie "Urban Bushmen" von 1980, einer Live-Aufnahme aus dem Münchner Amerika-Haus, oder der schon ein Jahr vorher erschienenen Platte "Nice Guys" – und dabei einen ganz eigenen musikalischen Kosmos entdecken. Der rundet sich durch völlig andere Alben, zum Beispiel "Avant Pop" von Lester Bowies Brass Fantasie aus dem Jahr 1986 mit voll Blechwucht interpretierten Pop-Klassikern wie etwa Fats Dominos Hit "Blueberry Hill". Oder auch Roscoe Mitchells Gruppe Note Factory mit dem Album "The Far Side" aus Aufnahmen vom März 2007 von der Internationalen Jazzwoche Burghausen (mitgeschnitten vom Bayerischen Rundfunk).

"Wir fragten nicht nach Gigs, wir spielten einfach"

Spannend ist es, die Aufnahmen zu hören und dabei lesend nachzuvollziehen, wie damals alles kam. Schlagzeuger Jack DeJohnette, ebenfalls mit drei Alben in der Box vertreten, schildert die Zeit, in der sich das Art Ensemble aus Mitgliedern der "Association for the Advancement of Creative Musicians" formierte, folgendermaßen: "Ich war mitten im Geschehen Anfang der 1960er Jahre in Chicago und spielte sehr früh freie oder Avantgarde-Musik oder auch, ein besserer Name dafür: kommunikative Ausdrucks-Musik. Roscoe Mitchell, Joseph Jarman und ich gingen alle zusammen aufs Junior College. Roscoe und ich besuchten uns gegenseitig und spielten stundenlang, ohne musikalische Vorlage, improvisierten einfach. Jarman wohnte im Süden Chicagos, und wir begannen, bei ihm zu Hause Konzerte zu geben. Die Leute zahlten ein bisschen was am Eingang, kamen rein und hörten zu. Schüler fragen mich heute immer wieder: Wie kommt man an Gigs heran? Wir damals warteten nicht darauf, entdeckt zu werden. Wir taten uns mit Muhal Richard Abrams zusammen, gründeten die AACM und schufen unser eigenes Format."

Entdeckungsreise für Kenner und Neulinge

Musikgeschichte, sehr lebendig vermittelt und zusammengestellt. Ein enormes Abenteuer der Wieder-Entdeckung kann man hier beim Hören und Blättern haben. Und sicher auch – für Hörer, die sich bisher nie mit dieser ganz eigenen musikalischen Welt befasst haben – ein aufregendes Entdecken. Avantgarde-Jazz ist in den Aufnahmen des Art Ensemble of Chicago eine ungemein sinnliche und kommunikative Angelegenheit. Musik, die wild und frei ist – und zugleich unterhaltsam und voller eigener Schönheiten.

Mit Klängen wie denjenigen dieses Ensembles und seines Umkreises fand der Vielen einst allzu trocken und intellektuell gewordene Free Jazz eine neue Zugänglichkeit. Besonders in den Konzert-Aufnahmen von 1980 aus München unter dem vielsagenden Titel "Urban Bushmen" kann man die fünf Art-Ensemble-Musiker – unter anderem in zwei langen Suiten – in einer immensen Vielfalt an Ausdrucksmöglichkeiten erleben. In der wunderbaren Ballade "New York Is Full Of Lonely People" von Trompeter Lester Bowie ist diese Musik einmal sogar fast konventionell lyrisch und hinreißend melodiös. Der Jazz dieser Band: ein Kosmos der Überraschungen – selbst dann, wenn man die Musik eigentlich schon seit Jahrzehnten zu kennen glaubt.

Art Ensemble of Chicago auf BR-KLASSIK

25. Oktober 2018, 23:05 Uhr: Jazztime - All that Jazz

From the Ancient to the Future: Die Musik des "Art Ensemble of Chicago" mit Musikern wie Trompeter Lester Bowie und Saxophonist Roscoe Mitchell in einer Retrospektive.
Moderation und Auswahl: Roland Spiegel

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