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Songwriter und Nobelpreisträger Bob Dylan ist 80 Die wiedergefundene Wucht

Die einen können seine Stimme nicht ertragen, die anderen halten sie für die schönste von allen. Doch der Kreis seiner Fans umfasst die ganze Welt. Und seine Schaffenskraft ist offenbar unerschöpflich. Bob Dylan, der große Singer-Songwriter und näselnd-unverwechselbare Sänger, wird am 24. Mai 80 Jahre alt.

Bob Dylan | Bildquelle: picture-alliance/dpa/Captital Pictures

Bildquelle: picture-alliance/dpa/Captital Pictures

Seine Texte sind hohe Song-Literatur, seine Melodien volksliedhaft einprägsam. Sein Lebenswerk schillert zwischen vertraut und stets überraschend. Seit sechs Jahrzehnten – eine eigentlich fast unvorstellbare Dauer - schreibt er Lieder und nimmt sie auf, mit einer Stimme, die jedesmal ein bisschen anders ist, weil sie in stets neue Rollen schlüpft, und die man dennoch mit keiner anderen verwechseln kann. Hunderte von Songs zählt seine Produktion, vielfach nachgesungen von Weltstars wie Harry Belafonte, Bruce Springsteen und den Byrds. Den Literatur-Nobelpreis wünschten ihm seine Fans viele Jahre lang – und 2016 erhielt er ihn denn auch: eine von den einen kritisierte und den anderen euphorisch gefeierte Entscheidung. Seine knarzende, raue, raunende Stimme hatte er zu diesem Zeitpunkt hauptsächlich amerikanischen Evergreens geliehen. Doch 2020 meldete er sich überraschend zurück mit dem Album "Rough and Rowdy Ways", das neue, besonders textreiche Songs enthielt und verblüffte sogar seine größten Verehrer mit einer wiedergefundenen Wucht, die manche schon verloren geglaubt hatten.

Robert Allen Zimmerman heißt der Künstler, um den es geht – besser bekannt unter dem Namen Bob Dylan. Der wurde am 24. Mai 1941 in Duluth, Minnesota, geboren und feiert jetzt seinen 80. Geburtstag. Pandemie-bedingt nicht auf Tour, wie es für ihn am typischsten wäre. Für April 2021 waren Konzerte in Japan geplant, die aber abgesagt wurden.

17 MINUTEN FÜR EIN EINZIGES LIED

Bob Dylan | Bildquelle: dpa/Vi Khoa/Ho Bildquelle: dpa/Vi Khoa/Ho "Rough and Rowdy Ways", das jüngste Album von Bob Dylan, erschienen 2020, mitten im weltweiten Kampf gegen die Corona-Pandemie, wurde zu einer Sensation. So als habe er mit einem Schlag all das ausdrücken wollen, was sich in den acht Jahren seit der letzten Veröffentlichung eigener Songs angestaut hatte. Ein Stück ragt besonders heraus, nicht nur auf diesem Album, sondern in Dylans Gesamtschaffen. Es heißt "Murder Most Foul" nach einem Zitat aus Shakespeares "Hamlet", dauert 17 Minuten und ist das wortreichste Lied, das Dylan je geschrieben hat – und das, obwohl er schon in den 1960er Jahren die damals übliche Länge von Songs bei weitem sprengte: 7214 Zeichen ist der Text lang (zum Vergleich: "Imagine" von John Lennon enthält, alle wiederholten Zeilen mitgezählt, nicht einmal ein Zehntel: 617). Und "Murder Most Foul" ist nicht nur lang, sondern auch inhaltlich ein kraftvolles Statement.

AMERIKANISCHE KULTURGESCHICHTE SEIT KENNEDYS ERMORDUNG

Der Song bezieht sich auf die Ermordung John F. Kennedys 1963 und hängt daran eine Art Kulturgeschichte der 1960er Jahre und ihrer Träume an, gespickt mit assoziativ aneinandergereihten Songzitaten ("Freedom, oh freedom, freedom over me / Hate to tell you, Mister, but only dead men are free"). Laut dem Schriftsteller und ehemaligen Präsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Heinrich Detering, einem herausragenden Dylan-Kenner, handelt das Lied aber keineswegs nur von der Vergangenheit: Es erweise sich als ein Song "über den Niedergang Amerikas seit den 1960er-Jahren bis in die Trump-Ära, ein großer, epischer, majestätischer Song". Es ist auch ein Lied über eine Gewaltbereitschaft, die seit den 1960er Jahren keineswegs nachgelassen hat. Detering weiter: "Die Welt, die da hereinkommt, ist voller Schmerzen und Gewalt, Unterdrückung der Schwarzen, Klassenkonflikten, Gewalttätigkeit, ein Gewaltzusammenhang, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint." Auch die rassistische Polizeigewalt gegen den Afroamerikaner George Floyd kommt einem beim Hören und Lesen des Textes unweigerlich in den Sinn – zumal Dylan in einem Interview mit der „New York Times“ darüber sagte: "Das hat mich ohne Ende krank gemacht". "Murder Most Foul": ein großer, raunender Gospel-Song über menschliche Aggression, der auch weit über die USA hinaus aktueller denn je ist.

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Bob Dylan - Murder Most Foul (Official Audio) | Bildquelle: BobDylanVEVO (via YouTube)

Bob Dylan - Murder Most Foul (Official Audio)

DIE REISE DES NACKTEN AFFEN

Fest steht: Ein altersmüder Poet ist dieser Dylan keineswegs. Der New York Times sagte er auch über eines seiner neuen Lieder: "Ich denke über den Tod der menschlichen Spezies nach. Die lange, seltsame Reise des nackten Affen." Er hat noch etwas zu sagen – mit einer Stimme, die noch dunkler, rauer, unheimlicher klingt als je zuvor, aber eingebettet ist in einen verblüffend leichten musikalischen Fluss. Wie immer gibt Dylan aber in seinen Songs Rätsel auf, seine sich episch ausbreitende Lyrik ist nach wie vor ein Fall für Dylanologen auf der ganzen Welt. Und für Literaturwissenschaftler – die in der Lage sind, den Sinn aus vielen Querverweisen und kryptischen Formulierungen herauszuschälen.

ES IST IN ORDNUNG, MAMA, ICH BLUTE NUR

Dylan zu hören, das ist das eine. Dylan verstehen: eine Lebensaufgabe. Allerdings besteht unter vielen von Dylan mitgeprägten Songwritern und ihn bewundernden Schriftstellern und Kritikern auch der Konsens, dass Bob Dylans große Mysterien auch ihren Reiz als solche haben – und eine vorzügliche Inspiration sind. In einem eben erschienenen Buch haben 21 deutschsprachige Autorinnen und Autoren berühmte Dylan-Songs zum Anlass für eigene Geschichten genommen, fiktive und real erlebte. Der Herausgeber Maik Brüggemeyer, Autor bei der Zeitschrift "Rolling Stone", schreibt: "Bob Dylan zuzuhören, ist für jeden, der sich seinen Liedern aussetzt, wie der Blick aus dem Zugfenster, an dem schemenhaft Bilder aus dem eigenen Leben vorbeiziehen."

ARCHIV - 14.07.2012, Spanien, Benicassim: Bob Dylan, US-amerikanischer Singer-Songwriter, während eines Konzerts. Der Rockmusiker feiert am 24.05.2021 seinen 80. Geburtstag. (zu dpa-Porträt "80 Jahre rollender Stein: Die Musikwelt verbeugt sich vor Bob Dylan") Foto: Domenech Castello/EFE/epa/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ | Bildquelle: dpa-Bildfunk/Domenech Castello Bildquelle: dpa-Bildfunk/Domenech Castello Dylan sei nicht nur Geschichtenerzähler, sondern vor allem "Geschichtenermöglicher". Eine besonders köstliche steht gleich am Anfang: Der Romanautor und Kabarettist schildert ein Kindheitserlebnis mit einem Hippie, der im selben Haus in der Mansarde wohnte, und die kindliche Verwunderung über eine Songzeile, die da lautete: "Es ist in Ordnung, Mama, ich blute nur." Die deutsche Popmusikerin Bernadette La Hengst hingegen reflektiert über Dylans Songlyrik und deren Einfluss auf eigene Lieder. "Dylans Lieder waren für mich immer voller Missverständnisse", schreibt sie, "unter anderem, weil mein Englisch nie ganz reichte, um die Texte zu durchdringen" - womit sie womöglich vielen Musikfans aus der Seele spricht. "It's alright ma", "Ballad of a thin man", "I'm not there", "I want you" sind die Songs, an denen Autorinnen und Autoren wie Marion Brasch, Judith Holofernes, Tom Kummer oder Benedict Wells ihre Geschichten aufgehängt haben – und das ganze Buch heißt "Look Out Kid" (Ullstein Verlag) nach einer Zeile aus dem Song "Subterranean Homesick Blues".

DER FOLK-JARGON UND HOMERS "ODYSSEE"

Bob Dylan inspiriert Literatur. Schrieb er auch selbst welche? Diese Frage warf sogar er selbst anlässlich der Verleihung des Nobelpreises 2016 auf. Zur Erinnerung: Erst zwei Wochen nach Bekanntgabe reagierte Dylan überhaupt auf diese weltberühmte Ehrung; zur Preisverleihungs-Zeremonie sagte er ab und schickte stattdessen eine Kollegin, die Songwriting-Ikone Patti Smith. Die Preisrede lieferte er erst wenige Tage vor Ablauf der Frist ab. Darin heißt es unter anderem: "Als ich anfing, meine eigenen Songs zu schreiben, war der Folk-Jargon die einzige Sprache, die ich kannte, und ich gebrauchte sie." Später spricht er über drei besondere Bücher, die ihn geprägt hätten: "Moby Dick", "Im Westen nichts Neues" und die "Odyssee" - eine Auswahl, die nicht unbedingt von Bescheidenheit zeugt; aber zu Dylan würde die auch nicht passen. "Unsere Songs sind lebendig im Land der Lebenden", schließt Dylan am Ende seiner Nobelpreis-Vorlesung an eine geschilderte Szene aus der "Odyssee" an: "Aber sie sind etwas anderes als Literatur. Sie sollen gesungen, nicht gelesen werden. So wie die Worte in den Dramen Shakespeares auf der Bühne gesprochen werden sollen, so sollen die Texte von Songs gesungen werden und nicht auf einer Buchseite gelesen." Fast liest sich das, als habe Dylan dem Nobelpreis-Komitee damit sagen wollen, dass er nun wirklich der falsche Adressat für diese große Ehrung sei. Aber vielleicht ist das auch eines von den Irritations-Spielen, die zur Karriere Bob Dylans genauso gehören wie seine Songs.

ICH IST EIN ANDERER

Bob Dylan und Joan Baez | Bildquelle: picture-alliance/dpa Bob Dylan und Sängerin Joan Baez | Bildquelle: picture-alliance/dpa Bob Dylan: der große Polarisierer. Dieser Liedermacher, Sänger, Gitarrist, Mundharmonika- und Keyboard-Spieler, der in den frühen Sechziger Jahren im New Yorker Stadtteil Greenwich Village als Protestsänger der Folk-Bewegung erste Erfolge feierte, sich wenige Jahre später unter Buhrufen der Folkgemeinde zum Rock-Poeten wandelte und seitdem stets alles tut, um festgefügte Erwartungen gerade nicht zu erfüllen – dieser Poet und Musiker ist ein Monument der Wandelbarkeit. Er ist ein Nicht-Fassbarer. Und genau daran scheint er eine diebische Freude zu haben. "Alias" hieß denn auch die Filmfigur, die Bob Dylan in einem sehr berühmten Western spielte: in dem Film "Pat Garrett jagt Billy the Kid von Sam Peckinpah aus dem Jahr 1973. "Alias", lateinisch für "sonst", ein Wort, das auch häufig für "Pseudonym" oder auch für "andere Identität" steht, passt besonders gut zu Dylan: All sein Wirken ist das Wirken eines jedes Mal Anderen. Die ständige Erneuerung ließ ihn immer interessant bleiben. Hinzu kommt aber auch ein hervorstechendes Talent, packende Melodien zu erfinden. Und diese Melodien singt er in jeder Tournee stets ein bisschen anders als zuvor. Songs wie "Blowin‘ in the wind" oder "Mr. Tambourine man" haben etliche Metamorphosen erfahren, manchmal so starke, dass sie die Fans vor allem über den Text identifizieren konnten und ansonsten darüber rätselten, ob der Song denn eigentlich derjenige sei, den sie seit so langer Zeit kennen.

BERÜHMTER WERDEN ALS ELVIS

Bob Dylan, Spross einer Familie aus deutsch-jüdisch-ukrainischen Immigranten, wuchs mit Musik von Sängern wie Hank Williams, Chuck Berry und Buddy Holly auf. Er war fasziniert von Elvis Presley, und eines seiner ersten Ziele war, berühmter zu werden als Elvis. Mit 18 kam er mit der Musik der Folk-Ikonen Pete Seeger und Woody Guthrie in Berührung. Besonders Woody Guthrie, der Autor von Folk-Klassikern wie „This land is your land“, beschäftigte ihn. Dylan besuchte in den Sechziger Jahren den schwerkranken Guthrie im Krankenhaus, wo er ihm einige von dessen Song-Klassikern zur Gitarre vorsang. Von Woody Guthrie stammt eine für Dylan bis heute wichtige Inspiration: die Kunst, eigene Songs immer wieder neu zu phrasieren, um sie aus dem Augenblick heraus sozusagen neu zu erfinden.

BERTOLT BRECHT UND ROBERT JOHNSON

Bob Dylan | Bildquelle: imago/LFI Bildquelle: imago/LFI Die Inspirationsquellen Bob Dylans sind vielfältig. Sein Künstlername "Dylan" verweist auf einen Dichter, den der junge Robert Allen Zimmerman sehr verehrte: den walisischen Schriftsteller Dylan Thomas. In seinem Buch "Chronicles, Volume One" schildert Bob Dylan selbst andere Einflüsse. Die "Seeräuber-Jenny" von Bertolt Brecht und Kurt Weill ist darunter; ohne dieses Lied hätte er Songs wie "It‘s alright ma" oder "A hard rain’s a gonna fall" nie geschrieben, sagt er da. Und er führt weiter aus: Wenn er nicht den Blues-Sänger Robert Johnson gehört hätte, dann gäbe es wohl Hunderte von Zeilen, die er nicht verfasst hätte, weil er sich nicht frei oder reif genug gefühlt hätte dafür. Er schildert hier seine Vorstellungen von Robert Johnson, den er selbst nicht in einem Konzert erleben konnte, da Johnson schon 1938, mit 27 Jahren, starb: "Er spielt mit riesigen, spinnenartigen Händen, und wie von einem Zauber bewegt, gleiten sie über die Saiten seiner Gitarre. Er hat einen Halter mit einer Mundharmonika um seinen Nacken. (…) Er sieht fast kindlich aus, engelsgleich, völlig unschuldig." Über die Kunst dieses Sängers sagt Dylan: "Robert Johnsons Sprachcode war nicht vergleichbar mit irgendetwas, das ich bisher gehört hatte." Zur gleichen Zeit war er der Lyrik des französischen Symbolisten Arthur Rimbaud begegnet. Da stieß er auf einen von dessen berühmten Sätzen: „"Je est un autre", ich ist ein anderer. "Das gab richtig Sinn. Ich wünschte, jemand hätte das mir gegenüber früher erwähnt. Das ging gut zusammen mit Johnsons dunkler Nacht der Seele und Woodys hochgetunten Gewerkschafts-Versammlungs-predigten und dem ‚Seeräuber-Jenny‘-Gerüst. Alles war im Übergang, und ich stand an der Pforte. Bald würde ich eintreten, schwer beladen, vor Leben strotzend und voll auf Touren. Allerdings noch nicht sofort."

Aber eben bald. Er kam auf Touren, und er hat kaum jemals das Tempo rausgenommen. Kaum einer in der Welt der populären Musik kommt um ihn herum: um diesen merkwürdigen Amerikaner, der Ohrwürmer schrieb und Songs von epischem Format verfasste, die Tausende Menschen auf der Welt auswendig kennen und bei Konzerten im Geiste mitsummen. Dylan schöpft aus Country und Blues, Gospel und Soul, er kann kraftvoll rocken und mächtig sülzen. Sein typischer Klang ist der Klang von einem, der in immer neue Rollen schlüpft, weil er auch selbst stets Neues entdecken will.

Immer derselbe und nie der gleiche: ein schöpferisches Wunder.

Einzigartige Stimme, Texte, die Weltliteratur wurden – und eine Endloskette unverwechselbarer Melodien. Man sollte ihren Autor nicht zu sehr feiern – aber nur, damit er nicht vor dem Hundersten auf die Idee kommt aufzuhören, der Dylan Bob, Sänger, Texter und unfassbares Dauer-Faszinosum.

Sendung: "Jazztime" am 25. Mai 2021 um 23.05 Uhr auf BR-KLASSIK

"Let there be Bob": Hommagen an Robert Zimmerman alias Bob Dylan aus Anlass seines 80. Geburtstags.

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