Einer, der alles kann, aber längst nicht mehr alles muss. Christian Muthspiel hat in seiner musikalischen Karriere einschneidende Entscheidungen getroffen. Jetzt feiert er seinen 60. Geburtstag mit gleich zwei neuen Doppelalben.
Bildquelle: Eckhart Derschmidt
Es gibt Menschen, die machen so viele Dinge, da fragt man sich, ob sie nicht 25 oder 26 Stunden am Tag zur Verfügung haben. Der Österreicher Christian Muthspiel etwa: Er ist klassischer Komponist und Dirigent, er ist Jazzmusiker und komponiert auch Jazzwerke, er ist Bildender Künstler, er geht gerne Bergsteigen und er ist Posaunist und Pianist auf höchstem Niveau, oder besser war, denn Christian Muthspiel hat eine einschneidende Entscheidung getroffen.
Ich habe nie an das Konzept geglaubt, dass man das, was man einmal relativ gut konnte, ein ganzes Leben machen muss.
Christian Muthspiel, Posaune, und Steve Swallow, akustische Bassgitarre. | Bildquelle: Rolf Schöllkopf Am 20. November 2019 gab er sein letztes Konzert als Posaunist und Pianist. Es war ein Duokonzert mit Bassist Steve Swallow beim Jazzfestival im englischen Cambridge. Seither hat er die Posaune nicht mehr angerührt: "Ich habe mich verbeugt vor ihr und habe sie geputzt und warte jetzt auch mit der Posaune auf jemandem. Dieser Mensch wird das Instrument dann weiterspielen, weil für sich selbst ein bisschen Posaune spielen geht nicht. Alles, was man mal auf einem bestimmten Niveau gemacht hat, macht man entweder auf dem Niveau oder nicht. Das ist wie im Sport: Wenn man nicht mehr trainiert, tut man sich weh, wenn man dann Fußball spielt."
Eine Entscheidung, mit großer Tragweite, auch für die Jazzszene: Als improvisierender Musiker trat Christian Muthspiel nicht nur mit dem legendären Bassisten Steve Swallow auf. Er war lange Jahre Mitglied im Vienna Art Orchestra, spielte in eigenen Bands mit dem französischen Trompeter Matthieu Michel, dem österreichischen Bassisten Georg Breinschmid, aber auch mit seinem jüngeren Bruder Wolfgang Muthspiel, einem international ebenso angesehen Jazzer.
Am 20. September 1962 kam Christian Muthspiel in Judenburg in der Steiermark zur Welt und Musik umgab ihn seit seiner Kindheit. Sein Vater Kurt Muthspiel war engagierter Chorleiter und eine wichtige Figur für die Laienmusik in der Steiermark. Christian lernte Klavier und Posaune, klassisch und im Jazzbereich, und schon mit 17 Jahren wurde er als Posaunen-Aushilfe in der Grazer Oper gebucht. Zeitgleich kam aber auch der Jazz immer mehr in sein Leben. Konzerte von der Carla Bley Big Band, von Albert Mangelsdorff solo, aber auch von den österreichischen Jazzhelden Harry Pepl und Werner Pirchner, sowie des Sun Ra Orchestra beeindruckten ihn. Wie frei und cool diese Menschen auf der Bühne agierten, jeder war genau er selbst. "Da will ich hin", dachte sich Christian Muthspiel.
Christian Muthspiel als klassischer Dirigent bei den Schlossfestspielen Ludwigsburg. | Bildquelle: Reiner Pfisterer / Ludwigsburger Schlossfestspiele Christian Muthspiel positionierte sich im Laufe der Jahre immer mehr in der Zwischenwelt von Klassik und Jazz, ohne in den Crossover abzudriften. Er dirigierte Symphonien von Gustav Mahler, bearbeitete Kompositionen von John Dowland für sein Jazzquartett, er umrahmte mit seinem Posaunen- und Klavierspiel Aufnahmen von Ernst-Jandl-Gedichten und interagierte mit der aufgezeichneten Stimme des Dichters. "Für und mit ernst" heißt das Projekt aus dem Jahr 2008, das Muthspiel auch als Soloprogramm live mit Loopgeräten und einem großen Instrumentarium aufführte – ein Erlebnis.
Auf all diese Musik blickt der Österreicher jetzt mit einem Erinnerungs-Doppelalbum zurück: "Diary" heißt es und es enthält Aufnahmen von 1988 bis 2022 aus den ganz unterschiedlichen künstlerischen Phasen Muthspiels. Fast zweieinhalbstunden Musik sind das, herrlich abwechslungsreich, aber immer mit Sinn für Dramaturgie zusammengestellt. Die aktuellsten Aufnahmen stammen von Muthspiels neuem Ensemble, auf dem nun sein Hauptfokus liegt: dem ORJAZZTRA VIENNA.
Das ORJAZZTRA VIENNA | Bildquelle: Lukas Beck
Schon lange war es der Traum des Dirigenten und Komponisten, ein großes Jazzensemble zu gründen, in gewisser Weise anknüpfend an das legendäre "Vienna Art Orchestra", das von 1977 bis 2010 existierte und vom Schweizer Mathias Rüegg geleitet wurde.
Muthspiel wollte die spannende junge Szene Österreichs in einem Ensemble zusammenbringen und als Komponist und Dirigent einen ganz eigenen Klangkosmos schaffen: "Der Sound ist insofern sehr wichtig, als ich wirklich versucht habe, eine Orchesterkultur zu formen. Wir sind keine Big Band, wir sind ein Orchester".
Mit diesem Orchester lebt Muthspiel nun seine ganze Musikalität aus, er "mischt sich irrsinnig ein", wie er sagt. Alles ist sehr genau und mit Sinn für Doppeldeutigkeit und Subtilität komponiert, dabei aber auch so gut geprobt, dass die Musik, die Lässigkeit und Freiheit des Jazz ausstrahlt.
Muthspiel hat schon aufsehenerregende Projekte mit seinem ORJAZZTRA auf die Beine gestellt, im Sommer 2022 gleich zwei außergewöhnliche hintereinander:
Für das Festival "La Strada" der Oper Graz komponierte Muthspiel ein Theaterkonzert mit dem Titel "La Melodia della Strada", das Ende Juli 2022 uraufgeführt wurde. Wenige Tage später hatte seine Oper "Umadum" in München beim "Out of the Box"-Festival Premiere. Muthspiel hatte eine Oper für 27 Beteiligte komponiert, verteilt auf die 27 Gondeln des Riesenrads im Münchner Werksviertel am Ostbahnhof, ziemlich genau dort, wo der neue Konzertsaal entstehen soll. Durch aufwendige Technik wurden alle Töne und Kamerabilder aus den Gondeln übertragen und als große Videokonferenz präsentiert. Zusätzlich gab es die Möglichkeit eine Riesenrad-Runde in einer Gondel direkt mit einem Instrument oder einer Stimme zu verbringen. Die Premiere musste leider bei der Hälfte aus Sicherheitsgründen unterbrochen werden, ein Gewitter war aufgezogen und die Gondeln des Riesenrades schwankten zu sehr.
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Festival "Out of the box" wartet mit weiteren Weltpremiere auf!
Christian Muthspiel scheut solche außergewöhnlichen Dinge nicht, aber bei ihm wird so ein bildgewaltiges Projekt nicht zum bloßen Spektakel. Dem Komponisten und Dirigenten geht es immer um die Musik, und auch ohne Riesenrad hätte die Musik der Oper "Umadum" eine packende Wirkung.
In seinem ORJAZZTA spielen Menschen, die genau mit so einer Offenheit und Freude am Experiment, aber auch mit einer Ernsthaftigkeit, Musik machen wollen, etwa die Bassklarinettistin Lisa Hofmaninger, der Trompeter Lorenz Raab oder die beiden Bassistinnen Beate Wiesinger und Judith Ferstl.
Zwar gibt es das Ensemble schon bald vier Jahre, aber erst jetzt, zu Christian Muthspiels 60. Geburtstag ist ein erstes Album der Band erschienen. Auch ein Doppelalbum, es heißt "Homecoming" und der Titel passt sehr gut zu Muthspiels Gefühlen in Bezug auf sein ORJAZZTRA: "'Homecoming' im Sinne von, dass sich etwas zumindest teilweise erfüllt, was eine jahrelange Sehnsucht war: dass sich die zwei Welten in denen ich mich bewegt habe, in der klassischen Musik und im Jazz so gut wie möglich treffen und es hoffentlich trotzdem kein Crossover ist, wo ich extrem empfindlich bin."
Seine unterschiedlichen Einflüsse, seine Vorstellung von Zusammenklang und Reibung, seine ganz eigene Kombination von Freiheit und Form, all das lebt Christian Muthspiel nun mit seinem ORJAZZTRA VIENNA aus, aber das Posauneüben vermisst er nicht, denn es darf in Zukunft auch gerne etwas weniger stressig sein:
Ich habe auch ein bisschen Lust auf Leerlauf, erfüllten Leerlauf oder beseelten Leerlauf.
Sendung: Leporello am 20. September 2022 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK