Fans und Kollegen atmeten zunächst auf: Als "Fake News" wurden am Wochenende Posts von seinem Tod bezeichnet. Doch nun wurde offiziell gemeldet, dass der große Jazzbassist Gary Peacock bereits am 4. September im Alter von 85 Jahren gestorben ist. Nicht zuletzt mit Pianist Keith Jarrett hinterließ er jahrzehntelang Einspielungen von jazzgeschichtlichem Rang.
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Er war ein Spezialist für Erdung und fürs Abheben zugleich. Ersteres scheint selbstverständlich für einen Kontrabassisten. Letzteres, vor allem im unmerklichen Wechsel von einem zum anderen, ist nur den ganz großen Musikern vergönnt. Und vielleicht keiner schaffte das so markant und scheinbar unangestrengt wie der 1935 im amerikanischen Bundesstaat Idaho geborene Gary Peacock.
Wenn er spielte, ob im vielgefeierten Trio mit dem Starpianisten Keith Jarrett, im Duo mit dem Gitarristen Ralph Towner oder in Trios unter seiner eigenen Leitung, stellte sich schnell das Gefühl einer nur schwer erschütterbaren Festigkeit ein: lauter Töne, die kraftvollen Halt boten. Wie zuletzt auf der musikalisch fein schillernden CD "Tangents" von 2016 zu hören – mit Pianist Marc Copland und Schlagzeuger Joey Baron. Zugleich waren diese Töne jederzeit bereit, sich in die Luft zu erheben. Dann schwangen sie sich zu Linien auf, die von lyrischer Schönheit waren und zugleich energetische Impulse aussandten, die die Musik in andere Dimensionen treiben konnten.
"Ich habe einen lebenslangen Freund verloren und einen Musiker, den ich auf Höchste bewundert habe seit dem ersten Mal, als ich ihn spielen hörte. Wir waren sehr zufrieden und stolz, dass wir ihn so früh auf unserem Label präsentieren konnten."
Eine der stärksten Jazz-Aufnahmen der letzten Jahrzehnte zeigt das: "God Bless The Child" mit dem Keith Jarrett Trio vom Januar 1983. Ein trauriges Lied der Sängerin Billie Holiday über Entbehrungen der Kindheit, hier in einer von Gospel- und Blues-Einflüssen beseelten Instrumentalversion: Wie Gary Peacock hier mit dem Bass etwa auf das Solo des Pianisten mit lauter kleinen Gegenmelodien reagiert, Motive aufgreift und sie in einen so starken wie flexiblen Groove einbindet – schon das fesselt stets beim Wiederhören der Aufnahme.
Aber wie er dann den Pianisten als Solisten ablöst und eine bluesig phrasierte Improvisation zu einem ergreifenden Klagegesang aus der Tiefe macht – das lässt einen immer wieder den Atem anhalten. Nicht von ungefähr hob der Schlagzeuger Jack DeJohnette hervor, dass Peacocks Spiel eine besondere "Spannkraft" hatte. Genau das ist gerade in den Aufnahmen dieses Trios immer wieder festzustellen.
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God Bless The Child -- Keith Jarrett Trio
Gary Peacock war einer, den man nicht nur hörte, sondern stets auch spürte: Denn für den emotionalen Gehalt einer Musik, für ihre innere Bewegtheit, hatte dieser Bassist einen besonderen Sinn. Er war ein Meister des Erspürens von Stimmungen – und ihres Fließen-Lassens und Weiterbewegens. Ein großer Könner des Im-Augenblick-Seins. Das machte Peacock in den frühen Achtzigern zum idealen Partner von Pianist Keith Jarrett und Schlagzeuger Jack DeJohnette in einem Trio, das gut drei Jahrzehnte lang weltweit gefeiert wurde. Aber auch bereits in Aufnahmen von vor dieser Zeit war das ein Merkmal Gary Peacocks.
Spielte jahrelang an der Seite von Bassist Gary Peacock: Pianist Keith Jarrett | Bildquelle: Woong Chul An Etwa in "Spiritual Unity", einer epochemachenden Free-Jazz-Aufnahme des Saxophonisten Albert Ayler vom Juni 1964, kletterte Peacocks Bass ungemein souverän lauter unorthodoxe Wege auf und ab, die den Hitzestrahl-artigen Tönen des Bandleaders ein irritierend feines Gegenüber boten. Auch in Aufnahmen mit den großen, sehr unterschiedlichen Pianisten Bill Evans und Paul Bley (mit beiden bereits 1963), mit der großen Freitönerin Marilyn Crispell, dem japanischen Langsamkeits-Zelebrator Masabumi Kikuchi und vielen anderen mehr bewies er sich als Virtuose der Einfühlung. Sehr unterschiedliche Tonsprachen hat der Jazz seit den 1950er Jahren entwickelt – und in vielen davon fühlte sich Peacock offenbar problemlos zuhause. Mit dem scheinbar schwerfälligen Instrument entwickelte er eine leichtfüßige Selbstverständlichkeit.
Kaum zu glauben, dass dieser Bass-Gigant durch schieren Zufall zu seinem Instrument kam. Als Schüler spielte er Klavier, Trompete und Schlagzeug. Nach Musikstudien in Washington wurde er in die Army eingezogen und in Deutschland stationiert. Er spielte damals in einem Jazztrio, aber als Pianist. Als dann der Bassist der Band heiratete und keine Zeit mehr für die Musik hatte, sprach der Drummer, der offenbar der Bandleader war, ein schicksalhaftes Machtwort: "Du spielst den Bass", sagte er zu Gary Peacock. Der wollte das zunächst gar nicht, aber der Drummer fand dann einen Pianisten, und Peacock blieb nichts anderes übrig, als sich mit dem Bass anzufreunden. Aus der Freundschaft wurde eine Verbindung fürs Leben.
Ging nach Alkohol- und Drogenproblemen für zweieinhalb Jahre nach Japan: Bassist Gary Peacock. | Bildquelle: Gary Peacock by Hardy Schiffler-dpa Nach der Army-Zeit (1956) blieb Peacock noch eine Zeitlang in Deutschland. Da es hier seiner Schilderung zufolge an Bassisten mangelte, konnte er in vielen Sessions mit Musikern der damals besonders florierenden Jazzszene von Frankfurt am Main spielen – und machte Bekanntschaft mit Musikern wie Gitarrist Attila Zoller und Saxophonist Hans Koller. Zurück in den Staaten spielte er unter anderem in der Band des Gitarristen Barney Kessel, inspirierte sich an der Musik von Bassisten wie Scott LaFaro und Ray Brown – und hörte schließlich die Töne des Free-Jazz-Pioniers Ornette Coleman, die die Improvisation auch bei ihm in neue, viel freiere Bahnen lenkten.
Er war ein Vielseitiger auf dem Viersaiter – und viele Jahrzehnte eine feste Größe. Doch Peacock hatte nach einem starken Karrierestart auch eine schwere Krise: In den späten Sechzigern gab er nach Alkohol- und Drogenproblemen die Musik radikal auf, ging zweieinhalb Jahre nach Japan, ernährte sich makrobiotisch und vertiefte sich in die japanische Sprache, Geschichte und Philosophie.
Über die japanische Sprache sagte er in einem Interview: "Ihr fehlt es an Personalpronomen. Und das führt nach einer gewissen Zeit zu einem Gefühl für Weite, das einen innerlich und äußerlich öffnet." Dieses Gefühl für Weite hatte Peacock, spätestens nach seiner Zeit in Japan, auch musikalisch: Abkehr vom Ego, Öffnung für Impulse, die aus der Hingabe aller Beteiligten an die Musik kommen. Das könnte man als die musikalische Philosophie dieses hervorragenden Spielers formulieren.
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Vignette
Peacock trat auch als Komponist und Bandleader in Erscheinung. So gehört etwa sein Stück "Vignette" von seinem Album "Tales of Another", erschienen 1977 beim Münchner Label ECM, zu den besonderen Perlen eines lyrischen, melancholisch gefärbten Jazz. In dieser Produktion spielte bereits das später berühmte Trio um Keith Jarrett zusammen – hier allerdings mit Peacock als Leader und Jarrett als Sideman. Dieses Album war der eigentliche Beginn eines Trios, das später ganz neue Standards im Jazzspiel setzte. Kein Wunder eigentlich, dass ein solcher Impuls von einem Musiker ausging, dessen besonderes Kennzeichen über viele Jahre die Offenheit für den Augenblick war: eben Gary Peacock, ein Geerdeter mit der Gabe fürs Abheben.
Leporello auf BR-KLASSIK am 8. September 2020 ab 16.05 Uhr
Gespräch mit Ulrich Habersetzer zum Tod von Gary Peacock
Jazztime auf BR-KLASSIK am 8. September 2020 ab 23.05 Uhr
In der Tiefe des Raumes
Nachruf auf Kontrabassist Gary Peacock
Moderation und Auswahl: Ulrich Habersetzer