In Corona-Zeiten haben Jazz-Alben einen neuen Stellenwert erhalten: Nicht in Konzerten erreichen Musikerinnen und Musiker ihr Publikum, sondern mit Aufnahmen. Wir stellen vier besondere CDs vor.
Bildquelle: ECM Records
Jazztime - 08.02.22
Hören wir Gutes Vol. 8 - gekürzte Version
"Hören wir Gutes und reden darüber Vol. 8" hier zum Nachhören – mit aus rechtlichen Gründen gekürzten Musikstücken.
In dieser Sendung haben sich Beate Sampson, Ulrich Habersetzer und Roland Spiegel zum achten Mal gegenseitig mit Alben überrascht: Niemand wusste vorher, was die jeweils anderen mitbringen würden. Über folgende vier Alben wurde in der Sendung gesprochen.
Den 1986 geborenen englischen Musiker Kit Downes kennt man unter anderem von Aufnahmen mit Kirchenorgel und mit größer besetzten Ensembles. Jetzt (am 11. Februar) erscheint ein Album, das er im Trio mit Bassist Petter Eldh und Schlagzeuger James Maddren eingespielt hat: "Vermillion". Es ist eine Musik, die völlig überrascht durch eine besondere Luftigkeit. Sehr lyrisch und melodiös begegnen die Trio-Partner einander hier, in zeitweise federleichter Bewegung. Das Aufregende dabei: Kein Stück wirkt harmlos. Denn das viele Schöne, das man hier hört, ist getragen von besonders feinen Strukturen. Das Spiel des Trios ist bis ins kleinste Detail durchwirkt von Kommunikation. Manchmal übernehmen Bass und Klavier bereits in der Themen-Exposition Stimmenverläufe voneinander. Vom Schlagzeug kommen viele leise und klanglich überraschende Akzente, wie kleine schwebende Tupfer in der Luft. Und wenn das Klavier etwa in Petter Eldhs Komposition "Class Fails" einsetzt, wirkt das wie ein Sonnenstrahl, der am Morgen sanft durchs Fenster dringt. Musik voller hauchfeiner Momente.
Bildquelle: Double Moon Records "Le sacre du printemps" - die Ballettmusik von Igor Strawinsky, die 1913 von Publikumstumulten begleitet in Paris uraufgeführt wurde, diente dem amerikanischen Komponisten und Arrangeur Jim McNeely als Inspiration für die sechs Sätze seiner Suite "Rituals". Er bezieht sich auf Strawinskys polytonale Klangsprache und komplexe Rhythmik und kreiert zugleich eine ganz eigene Musik, in deren Mittelpunkt er den Tenorsaxophonisten Chris Potter stellt. Die beiden in Chicago geborenen Musiker sind Größen der internationalen Jazzszene. Jim McNeely, Jahrgang 1949, war Pianist und Komponist des Thad Jones/Mel Lewis Jazz Orchestras und spielte in den Bands von Stan Getz und Phil Woods. Zu den führenden Orchestern, die er weltweit leitet(e), gehört seit der Saison 2011/12 auch die hr-Bigband alias Frankfurt Radio Big Band. Chris Potter, 1971 geboren, wurde in den 90er Jahren zum unumstrittenen Star seines Instruments. Sein hocheloquentes Spiel von höchstem harmonischem Esprit, sein griffiger und zugleich ungeheuer modulationsreicher Tonfall, die schiere Energie seines motivischen Ideenreichtums und der hochdynamische und ausgenommen facettenreiche Sound des Orchesters befeuern sich in ungeheuer packender Weise gegenseitig. Die Klangfarbenpracht des Ensembles mit zusätzlichem Horn, Harfe und Perkussion und die bluesig-beboppige Erzählkraft des Solisten funktionieren in verschmelzender Ergänzung und kontrastreicher Gegenüberstellung. Höchst gelungen sind auch die Arrangements von vier Kompositionen aus Chris Potters Repertoire, und so wird die CD "Rituals" insgesamt zu einem starken Statement in Sachen zeitgenössischer, genreumspannender und die Musikgeschichte reflektierender Big Band Musik.
Bildquelle: nWog Records
Hier prallen Welten aufeinander: die Klassische und die Jazzwelt. Viele haben schon versucht, diese Welten stilsicher und geschmackvoll zusammen zu bringen, wenigen ist es so gut gelungen wie dem in Leipzig lebenden Kontrabassisten Carl Christian Wittig auf dem Album "Perspective Suite". In seinem Aurora Oktett trifft ein Streichquartett auf Trompete, Altsaxophon, Kontrabass und Schlagzeug, aber es ist kein Gegeneinander, es ist ein Miteinander!
Die acht jungen Musikerinnen und Musiker entfachen einen kantigen Drive, der aber immer wieder völlig abbricht. Raum, sogar Leere entsteht. Das erzeugt eine immense Spannung und dieser Raum wird solistisch herausragend gefüllt. So viel Mut zur Lücke trauen sich nicht viele auf ihrem Debutalbum zu. Eine selbstbewusste, überraschende und großartig gespielte Musik, zu hören auf dem Album "Perspective Suite" von Carl Wittigs Aurora Oktett.
Konzerttipp: Das Aurora Oktett tritt beim Finale des 12. Burghauser Nachwuchs-Jazzpreises am 22. März im Stadtsaal in Burghausen auf.
Bildquelle: O-Tone Music Etwas Hypnotisches hat die Musik der schwedischen Sängerin Josefine Lindstrand. Eigentlich müssten Jazzfans längst ihren Namen kennen, denn seit rund zehn Jahren gehört die 1981 geborene Musikerin zur Band Human Chain des britischen Musikers Django Bates, und in Skandinavien ist sie seit rund 15 Jahren aktiv, unter anderem mit so renommierten Ensembles wie der Norrbotten Big Band. Ihr eben erschienenes Album "Mirages by the Lake" dürfte dennoch für Viele eine Entdeckung sein. Der Titel, der Trugbilder über dem Wasser suggeriert, deutet bereits auf die Stimmungen hin, die in dieser Musik zu erleben sind. Doch die Klänge sind von einem Reichtum und einer Feinheit, die auch eine noch so poetische Formel nicht erahnen lässt. Blechblas-Instrumente, Klavier, Schlagzeug und zart eingesetzte elektronische Effekte schaffen eine oft trance-hafte Klangwelt, in der sich eine zarte, manchmal fast kindlich gefärbte Stimme erhebt. Sie klingt wie eine Folkstimme - und die Melodien schöpfen aus der Folk- und Singer-Songwriter-Tradition. Jazz mit weitem Horizont also - eine Musik, die auch an sehr leisen Stellen eine eigene Magie entwickelt. Bei weitem nicht alles ist beschaulich in diesen Songs: Da beginnt ein Track schon mal mit packender Trommel-Wucht - und im einen oder anderen wird die Gesangsstimme durch einen effektvollen Chor ergänzt, der auf der CD-Hülle als Chor des Bundesjazzorchesters aufgeführt ist. Viele spannende Zutaten - und ein starkes Hör-Erlebnis.