Andere Festivals kapitulierten vor der Corona-Pandemie. Das Jazzfest Berlin, Deutschlands bedeutendstes Jazzfestival, tat das nicht. Ergebnis: Spannende Musikstunden mit einer tragfähigen Achse zwischen Berlin und New York.
Bildquelle: © Wolf Daniel / Roulette Intermedium, Brooklyn New York
Die Saxophonistin und Flötistin Anna Webber, erfreut und gelöst im Interview nach ihrem Auftritt auf der Bühne des New Yorker Veranstaltungsorts "Roulette", sprach aus, was viele Musiker derzeit bewegt: "Es kann sein, dass das jetzt auf lange Zeit hinaus unsere einzige Auftrittsmöglichkeit war". Sie und viele andere, vor allem im auf den Fernsehbildern idyllisch wirkenden Theaterbau, in dem das "Roulette" zuhause ist, atmeten sichtlich auf über die Gelegenheit, sich trotz Corona innerhalb eines Festivalprogramms einem Publikum stellen zu können.
Saxophonistin und Flötistin Anna Webber | Bildquelle: © Wolf Daniel / Roulette Intermedium, Brooklyn New York Das war zwar nur ein virtuelles Publikum ("Alright, cyber audience?", fragte etwa die Bandleaderin Lakecia Benjamin während ihres Konzerts in die Kameras). Aber dieses Publikum konnte über einen von ARTE ausgestrahlten Live-Stream vier Abende lang dem kompletten Programm eines der traditionsreichsten Festivals der Welt folgen. Das "Jazzfest Berlin" – gegründet 1964 als "Berliner Jazztage" – ließ seine am Sonntag zu Ende gegangene 57. Ausgabe ausschließlich mit Online-Konzerten ohne an den Spielorten anwesende Zuhörerschaft stattfinden. Ein über 30 Stunden langes Programm ließ in die aktuelle Jazzwelt blicken und lauschen. Eine besonders glückliche Idee war es dabei, alternierend Konzerte aus dem Berliner Spielort "Silent Green" und dem New Yorker Spielort zu streamen. So konnte die Internationalität gewahrt bleiben in Zeiten, in denen Reisemöglichkeiten extrem eingeschränkt sind. Und als Zuhörer und Zuschauer glaubte man, Zentren des aktuellen Jazz plötzlich ganz nah zu sein: New York wirkte – zum Beispiel von München aus – kein bisschen weiter weg als Berlin an diesen Tagen, an denen viele Antennen wegen des Krimis rund um die US-Wahlen sowieso stark nach Westen gerichtet waren.
Die Szene - und mit ihr alle musikinteressierten Menschen – kann der künstlerischen Leiterin des Jazzfests, der Kulturmanagerin Nadin Deventer, und ihrem hervorragenden Team nur dankbar sein. Denn seit März stand alles, was die diesjährige Ausgabe des Festivals betraf, ständig in den Sternen. Die Vorzeichen für die Veranstaltung änderten sich nahezu wöchentlich, und das umso drastischer, je näher der Termin rückte. Es wäre für das Organisations-Team und die veranstaltende Berliner Festspiele GmbH eine wohl weit bequemere Lösung gewesen, das Festival abzusagen und alle Aktivitäten auf 2021 zu verschieben – wie es andere (notgedrungen) taten. Aber Nadin Deventer und ihr Team sahen sich in der Verantwortung gegenüber Musikerinnen und Musikern und dem Publikum. Gerade während des zweiten Lockdowns, in dem vielen Künstlern erneut die Aufträge wegbrachen, stellte es sich als besonders wichtig heraus, dass diesem finanziell gut ausgestatteten Festival, das noch dazu von allen ARD-Anstalten unterstützt wird, nicht am Ende noch die Puste ausging. Es war auch ein wichtiger Impuls: Die Menschen brauchen gerade in diesen Zeiten die Kunst. Und die Kunst braucht Menschen, denen sie wichtig ist.
Musikalisch zeigte sich der Jazz an diesen vier Abenden vielfältig und so farbenreich, wie ihn außerhalb der Kenner-Szene vielleicht nicht viele vermuten. In diesem Sound einer offenbar sehr agilen Weltgemeinschaft gab es diesmal Mandolinen und Harfen ebenso wie Saxophone und Trompeten, es gab Computer-Rhythmen und menschliche Stimmen, die wie Computer-Sounds klingen konnten, Flöten unterschiedlicher Größe und Klangeigenschaft, es gab frei wirbelnde Tongewitter und unglaublich beseelte Melodien. Das Programm zeigte, wie sehr der Jazz, der durch seine Improvisationskultur schneller auf aktuelle Zustände reagieren kann als viele andere Musikstile, geeignet ist, die Gestimmtheit einer Zeit auszudrücken.
Etwa das Schlusskonzert "De-Isolation" mit Musikern des Berliner KIM Collective erschien wie ein großes, in die Zukunft gerichtetes Fragezeichen aus Klang. Gellende Trompetensounds, brodelnde Elektronik und zerstückelte Klagen einer Gesangsstimme rüttelten auf und drückten zugleich das Selbstbewusstsein einer Musik aus, die sich nicht in eine Stromlinienform pressen lassen, sondern menschliche Befindlichkeiten spiegeln will – mit all ihren Schroffheiten. Harfenistin Katthrin Pechlof, Vokalistin Dora Osterloh, Trompeter Brad Henkel, die Bassisten Dan Peter Sundland und Nick Dunston und Schlagzeuger Max Santner waren unter anderem an diesem Konzert beteiligt, das für die Kameras durch verschiedene Videoprojektionen ergänzt war.
Vibraphonist Joel Ross mit Maske beim Konzert im Roulette in New York | Bildquelle: © Wolf Daniel / Roulette Intermedium, Brooklyn New York Zwei musikalische Höhepunkte des Festivals kamen aus New York. Der erst 25-jährige Vibraphonist Joel Ross spannte mit seinem sechsköpfigen Ensemble Good Vibes einen so vollendeten Bogen, als sei ein Jazzkonzert eine durchkomponierte Symphonie für Vibraphon, Altsaxophon, Harfe, Bass, Klavier und Schlagzeug: ein ganz leiser, sparsam-dynamischer Beginn und danach eine bezwingende Entwicklung aus faszinierenden melodischen Linien und ganz fein gearbeiteten Rhythmen. Intensität und Schönheit kamen in diesem Konzert auf einen fesselnden Nenner. Ärgerlich war, dass die Regie von ARTE gerade während eines besonders innigen Moments dieses Konzerts auf Bilder von der nachfolgenden Gruppe schwenkte, die zeitgleich in Berlin bereits dabei war, sich auf ihren Auftritt vorzubereiten – und gefühlte Minuten dadurch von der faszinierenden Musik aus New York ablenkte. Etwas mehr musikalisches Feingefühl sollte man von einem so renommierten Kultursender schon erwarten können.
Lakecia Benjamin Quartet | Bildquelle: © Wolf Daniel / Roulette Intermedium, Brooklyn New York Die andere musikalische Sternstunde aus dem New Yorker "Roulette" war das Konzert der Saxophonistin Lakecia Benjamin mit Bassist Lonnie Plaxico, Pianist Zaccai Curtis und Schlagzeuger E. J. Strickland. "Pursuance" hieß ihr Programm mit Hommagen an die Musik von John und Alice Coltrane. Der 1967 verstorbene Saxophonist John Coltrane und seine Ehefrau, die Pianistin Alice Coltrane (1937 bis 2007), waren wichtige Figuren für einen stark spirituell geprägten Jazz der 1960er Jahre, der auch heute noch viele Menschen bewegt. Mit Stücken wie "Liberia", "Syeeda’s Song Flute", "Walk with me" und "Acknowledgement" entwickelte Lakecia Benjamins Quartett eine immense Ausdruckskraft – mit expressiven Momenten, die zugleich etwas stark Lyrisches hatten (und umgekehrt). Da Lakecia Benjamin nicht Tenor- und Sopransaxophon spielt wie einst John Coltrane, sondern Altsaxophon, haben ihre flammenden, hoch energetischen Linien einen ganz anderen Klangcharakter, als man sie aus den jeweiligen Originalen kennt. Sie spielt auch kantiger, souliger – und gerät nirgends in Gefahr, ein Idol zu imitieren. Lebendig, eigenständig und von großer kommunikativer Kraft waren ihre Interpretationen. Über "Acknowledgement", den ersten Teil von Coltranes Kultstück "A Love Supreme" sagte sie: "Es ist ein Liebeslied – aber ein Liebeslied fürs Universum". Unter diesem Motto könnte man fast alle musikalischen Beiträge aus New York an diesem verlängerten Jazz-Wochenende subsumieren – wenn man "Universum" vielleicht durch "Welt" ersetzt. Spürbar war bei vielen, dass sie emotionale Botschaften für die virtuelle Zuhörerschaft hatten. Ob bei der Kanadierin Anna Webber mit ihrer hochkomplexen Septett-Musik unter anderem für Saxophon, Klarinette, Posaune und Cello ("Clockwise"), beim "New Trio" des Pianisten Craig Taborn mit Gitarristin Mary Halvorson und Schlagzeuger Ches Smith oder beim hoch kammermusikalischen Duo der Saxophonistin Ingrid Laubrock mit Pianistin Kris Davis: Beseelt und voller Hingabe wirkten diese Beiträge von Musikerinnen und Musikern, die die Wertschätzung aus Europa auch besonders zu genießen schienen. Wohltuend, dass der hochkarätige Jazzpublizist Nate Chinen einige der Konzerte in New York ansagte und in seinen Interviews Fragen stellte, die essentiell mit der Musik zu tun hatten.
Bei nur wenigen Konzerten aus dem Berliner Spielort "Silent Green" (einem ehemaligen Krematorium, das jetzt ein bemerkenswerter Ort für Kulturveranstaltungen ist) war eine ähnliche spirituelle und emotionale Kraft der Musik spürbar. Vielleicht hat die Berliner Szene einfach eine stärkere Vorliebe fürs Abstrakte und für eine manchmal leicht gespreizte musikalische Avantgarde. Auf die Kraft melodischer Linien und eines sinnlich ansprechenden Groove setzte man da deutlich seltener. Etwa die Saxophonistin Silke Eberhard tat das mit ihrem herausragenden Ensemble Potsa Lotsa XL und ihrer kraftvollen Huldigung an den Chicagoer Jazzkomponisten Henry Threadgill, in der sich intellektuelles Vergnügen und körperhafte Energie durchdrangen. Auch beim Charles Sammons Collective sowie bei Sängerin Gugulethu Duma und dem Gitarrist Kechou am letzten Nachmittag im Weddinger Kunstraum Savvy Contemporary spürte man der sinnlichen Faszination der Töne hinterher. Am Haupt-Veranstaltungsort schickte man die grauen Zellen oft auf konditionsraubende Trips. Die Eröffnungsveranstaltung "Ceremony of Ceremonies" und "Ceremony of Inevitables" mit dem Ensemble des Bassisten Joel Grip, der sich mit stark abstrakten Klängen einer Kunstsprache namens Ap Lla widmete, wirkte als Auftakt eines Jazz-Festivals ungewöhnlich sperrig. Auch bei dem Programm "Fluid Formations" des Duos Witch 'n' Monk und des Bläser-Streicher-Ensembles LUX:NM ging es zum einen um Kunst-Performance und zum anderen um Erkundungen zwischen Jazz und zeitgenössischer E-Musik – auch unter besonderer Einbeziehung des Raums, als ein Teil des Ensembles von den Emporen der sogenannten Kuppelhalle im "Silent Green" spielte.
Ziemlich starke Momente hatte das Programm im "Silent Green" etwa beim subtil zwischen Feinheit und Sperrigkeit eines ganz eigenen Jazz-Klaviertrio-Klangs vermittelnden Trio des Schlagzeugers Jim Black (mit Elias Stemeseder am Klavier und Felix Henkelhausen am Bass) und bei der Gruppe "Ohrenschmaus" der kanadischen Trompeterin Lina Allemano mit jazzigen Schmirgelpapier-Reibungen über Stücken mit Titeln wie "Geröstet Peanuts" und "Ostsee". Ein extrovertiert kunstsinniges Artrock-Spektakel für Haustierfreunde war der Auftritt des Quartetts "MEOW" (zu Deutsch: "Miau") um Keyboarderin Liz Kosack und Vokalistin Cansu Tanrikulu (mit Jim Black am Schlagzeug und Dan Peter Sundland am Bass): Die Musikerinnen und Musiker trugen Katzenohren und -masken, lärmten lustvoll und blieben, platziert direkt nach dem Konzert von Joel Ross' Good Vibes, seltsam blass und seelenlos in ihrem Aktionismus. Allerdings freute sich die künstlerische Leiterin anschließend darüber, dass dieses Konzert in einem historischen Moment stattgefunden hatte: Während die Band spielte, wurde der Demokrat Joe Biden von vielen Medien zum Sieger der US-Wahl gekürt.
Stephan John vom Meuroer Mandolinenorchester | Bildquelle: © Camille Blake / Berliner Festspiele Hoch erfrischend dagegen ein Konzert, dessen Titel man kaum aussprechen kann: "Beyond / w. Bernhardt. feat. The Micronaut & Meuroer Mandolinenorchester". Dieses Konzert gehörte zu einer ganzen Reihe von Produktionen, die unterschiedliche ARD-Anstalten im Auftrag des Jazzfests Berlin organisierten - und in der auch die sehr inspirierten Konzerte etwa der Posaunistin Shannon Barnett und ihres Ensembles, des Trios um Pianist Philip Zoubek und des Quartetts von Gitarrist Philipp Schiepek zu erleben waren (Jazzfest Berlin Radio Edition). Hinter dem komplizierten Namen "Beyond / w. Bernhardt etc." verbirgt sich die Kooperation zwischen der Theatermusikerin und Komponistin Friederike Bernhardt mit dem Elektronik-Freak Stefan Streck (The Micronaut), einigen renommierten Jazzmusikern sowie einem vierköpfigen Mandolinen-Ensemble aus dem Ort Meuro in Sachsen-Anhalt (600 Einwohner). Einfache Folk-Melodien in der klirrend-poetischen Ästhetik der Mandolinen, trance-artige Elektronik-Patterns und lustvolle Jazz-Sounds etwa von Trompeterin Heidi Bayer, Saxophonist Johannes Ludwig und Bassist Lorenz Heigenhuber, verbanden sich da zu einem mitreißenden Ganzen voller archaischer Schönheit und vibrierender Modernität - alles gehalten vom präzisen Groove des Drummers Jan Roth. Das machte beim Zuschauen/Zuhören ein immenses Vergnügen, das noch gesteigert wurde durch den Spaß, den die beteiligten Musikerinnen und Musiker bei dem Ganzen zu haben schienen.
Auch das zeigte, was für eine sich übertragende Energie zustande kommt, wenn man in diesen schwierigen Tagen die Kunst zu ihrem Recht kommen lässt, wie es das Jazzfest Berlin jetzt vorbildlich vorgemacht hat.
Alle Konzerte sind auf ARTE CONCERT ein ganzes Jahr zu sehen; bis zum 58. Jazzfest Berlin im November 2021, das hoffentlich unter besseren Bedingungen über die Bühne gehen kann.