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Jazzfestival Münster 2017 Jazztheater für Entdeckungsfreudige

Wer Jazz-Entdeckungen machen will, muss alle zwei Jahre nach Münster fahren. Das mag verwundern, aber bei Kennern ist das dortige Jazzfestival längst ein heißer Tipp. Bei der 26. Ausgabe im Januar 2017 bestand die Hälfte des Programms aus Deutschland-Premieren.

Bildquelle: Ansgar Bolle

Interview zum Jazzfestival Münster 2017

Vorbildcharakter hat diese Veranstaltung. Drei kompakte Tage mit 17 sehr gut ausgewählten Programmpunkten im hochklassigen Ambiente eines der ersten modernen Theaterbauten der Bundesrepublik. Im Großen Haus des Gebäudes von 1956 hängen 1.200 dimmbare Wohnzimmerlampen an der Decke. Beim Jazzfestival Münster sorgt seit einigen Ausgaben ein knallroter Steinway-Flügel für Unverwechselbarkeit auf der Bühne.

Aber die Kulisse ist bei weitem nicht das einzig Besondere dieses seit 1997 alle zwei Jahre am gleichen Spielort stattfindenden Festivals. Einen völlig eigenen Stellenwert erhält es durch ein Programm, das voller musikalischem Futter für Neugierige ist. Lauter junge europäische Spitzenmusiker sind in oft neuen Formationen zu erleben, dazu einige wenige Stars aus anderen Teilen der Welt. Und Musiker, die längst zu den Stars gehören müssten - die aber viele Fans in Deutschland noch nicht auf dem Schirm haben.

Strahlende Schönheit und wirbelnde Intensität

Daniel Zamir auf dem Jazzfestival Münster 2017 | Bildquelle: Ansgar Bolle Daniel Zamir auf dem Jazzfestival Münster | Bildquelle: Ansgar Bolle Einen solchen Musiker hatte das Jazzfestival Münster im emotional packenden Schlusskonzert zu bieten: den israelischen Sopransaxophonisten und Sänger Daniel Zamir. Im Quartett mit Omer Klein, Klavier, Gilad Abro, Bass, und Amir Bresler, Schlagzeug, ließ Zamir Linien von strahlender Schönheit und wirbelnder Intensität aus seinem Instrument strömen - in Stücken, die von volksmusikalischen Rhythmen und Melodien geprägt sind. Ins Überirdische gesteigerte Tänze sind viele seiner Saxophon-Improvisationen. Und so fesselt Zamir das Publikum zugleich als Entertainer und als Meister einer luftraubenden Ausdruckskraft. Wenn er das Publikum zum Mitsingen animiert, dann wird das zur universalen Friedensbotschaft - die Zamir am Ende auch noch in einer Moderation explizit macht: "Peace can be very simple. Live and let live".
Zamir ist eine besonders faszinierende Figur des Jazz. Unter seinem Bühnen-Jackett trug er auch in Münster das jüdische Gebetshemd, auf dem Kopf eine Kippa. Im Programmheft wurde er mit dem Satz zitiert: "Es ist das erste Mal, dass jemand ultra-orthodoxes Judentum mit Jazz in Verbindung bringt". Er fühle sich wie ein Bote, hieß es da auch. Und seine Botschaft, getragen vom Glauben und von ebenso starkem Respekt, hinterließ ein jubelndes - und beseeltes - Publikum.

Kein Geheimtipp mehr

Erlebnisse wie diese erwartet man bei Weltstadt-Festivals wie demjenigen in Berlin oder würde für sie auch mal nach New York fahren. Hier hat man sie in einer westfälischen Stadt von derzeit 310.000 Einwohnern, die man aus den schrägsten Tatort-Folgen kennt, aus einer ZDF-Serie über einen Buch-Antiquar, der zugleich als Privatdetektiv arbeitet (und deren Schauplatz wirklich ein Antiquariat ist), sowie natürlich vom Westfälischen Frieden.

Das Jazzfestival, das bereits seit 1979 existiert und 18 Jahre später zu seiner aktuellen Form fand, ist aber seit langem ein nicht ganz geheimer Tipp unter Kennern. Der Grund: Der Künstlerische Leiter Fritz Schmücker, hauptberuflich stellvertretender Chef des Stadtmarketings von Münster, geht bei der Programmgestaltung vor allem der eigenen Neugier nach. Und stellt mit einem Budget von rund 250.000 Euro (80.000 von der Stadt, ein ähnlich großer Posten durch Kartenverkäufe und der insgesamt größte Teil durch diverse Sponsorenleistungen) ein Festival auf die Beine, das auch für Spezialisten von weither ein Anziehungspunkt ist. Und für das Publikum in Münster sowieso: In diesem Jahr waren bereits 45 Minuten nach Vorverkaufsstart alle drei Abende im 1.000 Besucher fassenden Großen Haus ausverkauft. Eine verblüffende Erfolgsgeschichte.

Drei Drummerinnen

Dazu passte ein Programm, das auch noch viele rote Fäden hatte. Einer davon: Es gab allein drei Bands mit Schlagzeugerinnen als Leader. Die aus Westfalen stammende Drummerin Eva Klesse trat mit ihrem hervorragenden Quartett als frisch gebackene Preisträgerin des "Westfalen-Jazz"-Preises auf, nahm mit langen organischen Bögen und schönen Melodien und neben ihrem eigenen, hochdynamischen Samtpfoten-Sound vor allem mit ungemein fein ineinandergreifendem Ensemble-Spiel gefangen.

Die Drummerin Allison Miller auf dem Jazzfestival Münster 2017 | Bildquelle: Ansgar Bolle Die Drummerin Allison Miller auf dem Jazzfestival Münster | Bildquelle: Ansgar Bolle Die amerikanische Schlagzeugerin Alison Miller kam mit ihrem Sextett "Boom Tic Boom". Geigerin Jenny Scheinman und Pianistin Myra Melford waren hier unter anderem in einer Besetzung zu erleben, in der Groove, folkige Melodik und kammermusikalische Feinheit eine ganz eigene Farbmischung bieten: geistvolle Bewegtheit und Unvorhersehbarkeit. Dritte Drummer-Bandleaderin im Festival: die Französin Anne Paceo, deren Quartett eine reizvolle Musik mit elektronischen Elementen und poppigem Drive macht, in der der Keyboarder Tony Paeleman mit seinen Fender-Rhodes-Piano-Sounds eine besonders wichtige Rolle spielt.

Harte Schnitte

Das Spektrum bei diesem Festival war breit. Programmchef Schmücker setzte nach eigenen Worten auf eine "Ästhetik der Kontraste" - und das war belebend. Denn alle anderthalb Stunden änderte sich die Klangwelt radikal. Das ist bei der Vielfarbigkeit des heutigen Jazz, der sich auf kein Klischee mehr festlegen lässt, kein Problem - man muss diese Qualität nur nutzen. Und so brachten die drei Tage in Münster Musik-Erlebnisse von so starker Unterschiedlichkeit, dass darin auch ganz vieles geboten war, das Hörer weit über die Jazz-Gemeinde hinaus anspricht.

Marseillaise und Stevie Wonder

Ein Beispiel dafür: der immer noch lustvoll-geistsprühende niederländische Musiker-Zusammenschluss ICP (Instant Composers Pool) um Schlagzeuger Han Bennink und mit Musikern wie Cellist Tristan Honsinger, Bassist Ernst Glerum und Klarinettist Michael Moore. Dieses Groß-Ensemble, das zwischen Kategorien wie Jazz, Folk und moderner, komponierter Musik changiert, führte unter anderem ungemein witzige Kompositionen und Arrangements seines schwer kranken und nicht mehr aktiven einstigen Leiters Misha Mengelberg auf.

Der Schlagzeuger Han Bennink auf dem Jazzfestival Münster 2017 | Bildquelle: jazzfestival-muenster.de Der Schlagzeuger Han Bennink auf dem Jazzfestival Münster | Bildquelle: jazzfestival-muenster.de Auch das Duo des französisch-amerikanischen Pianisten Jacky Terrasson und des französischen Trompeters Stéphane Belmondo gehört zu den internationalen Attraktionen, deren Musik sich nicht nur strikten Jazzfans unmittelbar erschließt. Die beiden spielen auch mal die zärtlichste "Marseillaise", die sich denken lässt, oder eine besonders pointenreich zerklüftete Version von Stevie Wonders Hit "You are the sunshine of my life". In Münster gesellte sich ihnen nach der Hälfte der marokkanische Guembri- und Oud-Spieler sowie Sänger Majid Bekkas hinzu. Das war interessant, aber der groovende Stil von Bekkas mit seinen starken Trance-Elementen passt nun gerade nicht zum luftigen Stil von Jacky Terrasson. Oder umgekehrt: Terrasson passt nicht optimal zu Bekkas.

"Speak low" und andere Klassiker

Zu den herausragenden jungen europäischen Musikern in diesem Festival gehörte die slowenische Pianistin Kaja Draksler: Ihr Auftritt im Trio mit dem Schlagzeug-Wirbelwind Christian Lillinger und dem Bass-Ausdruckswunder Petter Eldh war eine Sensation. Musik von kantiger Freiheit: ganz harter Tobak zum Teil, aber in der Bewegtheit dieses Trios voller manchmal schroff-schöner Poesie und feingliedriger Radikalität; und ein Beweis dafür, dass es sogar in der ungemein häufigen Besetzung "Klaviertrio" noch wirklich neu zu entdeckende Töne gibt.

Die Sängerin Lucia Cadotsch auf dem Jazzfestival Münster 2017 | Bildquelle: Ansgar Bolle Die Sängerin Lucia Cadotsch auf dem Jazzfestival Münster | Bildquelle: Ansgar Bolle Mit dem Trio der Schweizer Sängerin Lucia Cadotsch, in dem ebenfalls Petter Eldh den Bass spielt, war dieses Ensemble zu einem Nachmittagskonzert im "Kleinen Haus" zusammengespannt, das zeigte, wie besonders intensiv das Erlebnis der kammermusikalisch kleinen Form des Jazz sein kann. Lucia Cadotsch sang unter dem Kurt-Weill-Motto "Speak low" das gleichnamige Stück und andere Jazz-Klassiker in Interpretationen, die immer etwas Existenzielles hatten: Der Saxophonist Otis Sandsjö lässt darin das Saxophon wie aus rätselhafter Ferne in abgeschrägter Mehrstimmigkeit klagen, flöten und sanft röhren, Eldh weitet mit dem Bass wuchtig den Untergrund, und mit ungemein schöner Stimme singt Cadotsch dann etwa den Text von "Strange Fruit", jener bitteren Billie-Holiday-Ballade, die von rassistischer Lynchjustiz in den USA erzählt, um dann aus diesem Lied heraus ein anderes wachsen zu lassen, das man von Nina Simone kennt und dessen Ich davon spricht, dass es kein Zuhause habe, keine Schuhe, kein Geld, keine Freunde, keine Arbeit, keine Erde - "aber mein Leben".

Jazz, so zeigte sich bei diesem Festival in Münster auch deutlich, kann ganz nah an den drängenden Themen der Zeit sein. Speak low, sprich leise - aber sag viel dabei. Genau das wurde in und mit diesem Programm an vielen Stellen erfolgreich vorgeführt.

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