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Jazzmusikerinnen und -musiker aus der Ukraine in Deutschland "Am Anfang habe ich nur geweint"

Mit Bestürzung, Trauer und Wut reagieren Jazz-Musikerinnen und -musiker aus der Ukraine und Russland auf den Krieg. In mehreren Radiosendungen kommen sie zu Wort.

Sängerin Ganna Gryniva  | Bildquelle: Tanya Vilchynska

Bildquelle: Tanya Vilchynska

Die Sängerin Ganna Gryniva kam 2002 mit ihren Eltern nach Deutschland, seit 2013 lebt sie in Berlin und hat dort in der Jazz-Szene Fuß gefasst. Im Gespräch mit BR-KLASSIK sagt sie: "Seit dem 24. Februar ist für mich nichts mehr so, wie es früher war. Mein Leben ist nicht mehr so, wie es früher war, und es gibt, glaube ich, kein Zurück mehr. Ich habe sehr viele emotionale Stadien durchlaufen, von denen ich noch nicht einmal wusste, dass es sie gibt und dass ich sie fühlen kann. Am Anfang fand ich es sehr unerträglich, in den ersten Tagen, als wir alle darauf gewartet haben, dass etwas passiert und dass die internationale Gemeinschaft eingreift und die Ukraine unterstützt. Diese Tage haben sich gefühlt unendlich in die Länge gezogen. Seit den ersten Tagen habe ich sehr viele Konzerte gegeben, um Geld zu sammeln, die Aufmerksamkeit aufrecht zu erhalten und die Leute zu informieren. Gleich am ersten Tag rief mich der Veranstalter des kleinen Berliner Clubs Donau 115 an und sagte, Ganna, lass uns ein Konzert machen, lass uns Geld für die Ukraine sammeln."

DIE VIELFALT DER UKRAINISCHEN KULTUR

Informieren möchte sie die Menschen im Westen nicht zuletzt über die ukrainische Kultur, die für sie "eine bunte und willkommene Diversität" darstellt. "Reichtum" und "Inklusion" seien für sie typisch für die ukrainische Kultur: "Wir haben viele verschiedene Religionen, auch die Krim-Tatarische Kultur, muslimische Menschen, die in der Ukraine leben; da sind verschiedenste Kirchen, von der orthodoxen Kirche bis zur katholischen Kirche, es gibt Moscheen, es gibt Synagogen, und es gibt eben auch diese Möglichkeit, sowohl verschiedenste Formen von Ukrainisch als auch verschiedenste Formen von Russisch zu sprechen. Und das alles funktioniert." Das sei auch so, weil es in der Ukraine eine lebendige "Kultur der öffentlichen Kritik" gebe: "Streit, Diskussionen, nicht einer Meinung sein, Auseinandersetzen mit Dingen, die einem nicht gefallen: Das ist für mich auch ukrainische Kultur. Sachen austragen: Auf eine gewisse Art finde ich, das ist das Demokratischste, was man machen kann." Ganna Gryniva setzt am Ende des Gesprächs noch hinzu: "Ich wünsche mir sehr, dass der Krieg, der gerade in der Ukraine passiert, nicht zur alltäglichen Begleiterscheinung wird. Das ist das Gefährlichste."

SEIT DEM 24. FEBRUAR EXISTIERT NICHTS AUSSER KRIEG

Leleka | Bildquelle: Ralf Dombrowski Bildquelle: Ralf Dombrowski Die Sängerin Viktoria Leléka ist weit über Berlin, wo sie seit Jahren lebt, hinaus bekannt geworden, als sie 2018 den Europäischen Nachwuchspreis der Internationalen Jazzwoche Burghausen gewann. Beim Siegerkonzert in der Wackerhalle erhielt sie begeisterten Applaus. Als sie das Antikriegslied "Plyve kacha" sang, dessen Inhalt sie vorher erläutert hatte, war das Publikum in der vollen, großen Wackerhalle so ergriffen, dass es fast zwanzig Sekunden in atemloser Stille verharrte, bevor es zu applaudieren begann. Viktoria Leléka sagt im Gespräch mit BR-KLASSIK: "Es ist einfach gefühlt unertragbar schwer, und seit dem Zeitpunkt, dem 24., ist es ein Gefühl, dass mein Leben aufgehört hat und nichts mehr außer Krieg existiert. Es hat natürlich auch real mein Leben kardinal verändert. Ich fühle mich nicht als Musikerin oder Künstlerin, ich bin zu neunzig Prozent damit beschäftigt, mich um Flüchtlinge zu kümmern. Alles andere, was nicht direkt hilfreich für die Ukraine sein könnte, wirkt für mich irrelevant. Und natürlich bin ich persönlich betroffen mit meinen Familienangehörigen. Denn alle meine Freunde und Verwandte sind Ukrainer, und es hat viel Mühe und Sorgen und Nerven gekostet, die meisten von ihnen zu evakuieren. Jetzt sind alle in Deutschland, also meine Schwester, Papa, Mama und Oma, meine Neffen und meine Nichte. Das ist einfach alles superschwer." Über Freunde und Bekannte, die noch in der Ukraine sind, sagt sie: "Ich habe viele Kontakte in relativ ruhige Gebiete. Relativ. Denn eigentlich ist es überall unruhig. Und wenn ich mit jemandem Kontakt aufnehme oder telefoniere oder schreibe, ist es sehr schwer, diese persönlichen Geschichten zu erfahren und aufzuarbeiten."

ZWEIMAL INNERHALB WENIGER JAHRE ENTWURZELT

Gitarrist Igor Osypov  | Bildquelle: Igor Osypov private Bildquelle: Igor Osypov private Der Gitarrist Igor Osypov kam 2012 nach Deutschland: Denn er wollte unbedingt in Berlin bei dem berühmten amerikanischen Gitarristen Kurt Rosenwinkel studieren – was er dann auch tat. Dessen Musik hat ihn gefesselt und seitdem auch stark beeinflusst. In Berlin lebt er immer noch, mit seiner Frau und seiner Tochter. Seine Eltern aber sind noch in der Ukraine. Sein Vater ist unter sechzig und darf nicht ausreisen, die Mutter "braucht Hilfe und bleibt bei ihm". Darüber, wie er die Zeit seit dem 24. Februar erlebt hat, sagt Igor Osypov: "Das hat schon 2014 angefangen. Ich komme aus der Ost-Ukraine. Meine Familie ist schon einmal umgezogen. Und jetzt ist das zum zweiten Mal passiert. Das ist ganz schwer, sehr unangenehm." Das Wort "umgezogen" bedeutet hier: Sie mussten ihr Hab und Gut hinter sich lassen, um ihr Leben zu retten - und in einer sichereren Gegend Unterschlupf finden. Und dies nun zum zweiten Mal in acht Jahren, nachdem sie sich bereits einmal an einem neuen Ort eine neue Existenz aufgebaut hatten. In Donezk haben er und seine Eltern einst gewohnt, dem "Hot Point", wie Osypov sagt. Auch er hat, wie Ganna Gryniva und Viktoria Leléka, viele Benefizkonzerte gegeben, deren Erlöse an die "Ukraine-Hilfe" Berlin gehen.

MUSIK ÜBER DIE SEHNSUCHT NACH DEM HEIMATLAND

In seiner Musik, sagt Igor Osypov, verarbeite er ständig das Fern-der-Heimat-Sein. "Meine Musik handelt im Grunde immer von der Sehnsucht nach dem Land, wo ich geboren bin, und meiner Heimatstadt. Das ist so, seit ich 2014 am Jazzinstitut Berlin angefangen habe, meine eigene Musik zu schreiben." Er will in nächster Zeit ein neues Album veröffentlichen, das er "Motherland" nennen möchte. Gedanken und Erinnerungen an sein Land seien das Thema der neuen Aufnahmen – er habe dafür auch andere Leute befragt und deren Gedanken in der Musik aufgehen lassen. Dem Gespräch mit BR-KLASSIK schickt er noch folgende Botschaft hinterher, die ihm sehr wichtig ist: "Die Ukraine steht im Moment nicht nur für die Ukraine und ihr eigenes Volk, sondern die Ukraine steht jetzt gerade für die ganze Welt."

Radio-Tipps:

BR-KLASSIK - Jazztime, Donnerstag, 5. Mai 2022 ab 23.05
"Seit dem 24. Februar habe ich emotionale Stadien durchlaufen, von denen ich nicht einmal wusste, dass es sie gibt." Interview-Auszüge und Sounds von in Deutschland lebenden Jazzmusikerinnen und -musikern aus der Ukraine: Mit Musik und Originaltönen von Ganna Gryniva, Viktoria Leléka und Igor Osypov.
Moderation und Auswahl: Roland Spiegel

Bayern 2 - radioJazznacht, 8. Mai 2022 ab 0.03 Uhr
Musik gegen den Krieg und für den Frieden
Mit Aufnahmen von Pianist Leonid Chizhik und Sängerin Tasiya, dem SF Jazz Collective, der Mingus Big Band, dem Johannes Enders Quartett und anderen.
Moderation und Auswahl: Ulrich Habersetzer

Beide Sendungen sind 30 Tage online verfügbar!

LEONID CHIZHIK: TÖNE ÜBER DAS ENTSETZEN

Leonid Chizhik war in der ehemaligen UDSSR eine Berühmtheit, der Pianist in den Welten der Klassik und des Jazz wurde als "Verdienter Künstler der UDSSR" ausgezeichnet, er spielte im sowjetischen Staatsfernsehen und in den größten Konzertsälen. All das bedeutet heute nicht mehr viel. Wut, Trauer und Entsetzen, das sind seine Gefühle zurzeit. Der ehemalige Professor für Jazzpiano am Richard-Strauss-Konservatorium in München ist niedergeschlagen, aber er hat seine Gefühle auch in Musik übersetzen können.

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The Pain Leonid Chizhik Tasiya youtube   SD 480p | Bildquelle: Irina Frühwirth (via YouTube)

The Pain Leonid Chizhik Tasiya youtube SD 480p

"MEINE SEELE IST JETZT PERMANENT KRANK"

Nastja Volokitina, als Sängerin nennt sie sich Tasiya.  | Bildquelle: Tasiya Music Sängerin Tasiya aus Odessa lebt heute in Berlin. | Bildquelle: Tasiya Music Seit dem 24. Februar, dem Tag, an dem russische Streitkräfte die ersten Städte in der Ukraine angegriffen haben, hat Leonid Chizhik zwei Lieder komponiert und einen "Hymnus für die Ukraine". Die Texte zu den Liedern stammen von Sängerin Tasiya und ihrer Mutter Svetlana Volokitina. Tasiya, in Odessa geboren, lebt schon seit einigen Jahren in Berlin, ihre ukrainische Mutter und ihr russischer Vater sind mit Kriegsbeginn zu ihr geflohen.
"Meine Seele ist jetzt permanent krank", sagt sie und das Musikmachen und Auftreten fällt ihr sehr schwer. Bei einem Benefizkonzert für die Ukraine wäre ihr fast die Stimme erstickt und fast wären die Tränen gekommen. Nur alltägliche Tätigkeiten lenken sie von den Geschehnissen ab, mal ein paar Minuten lang, dann denkt sie wieder nur an den Krieg.

NUR GEWEINT

Pianist Leonid Chizhik will keine Interviews geben, er hat seine Gedanken niedergeschrieben und da schreibt er: "Am Anfang habe ich nur geweint. Ich weinte über die Ermordung meiner Jugend, der schönsten 18 Jahre meines Lebens in Charkiw, in der Ukraine. Jetzt wird diese Stadt von Russland zerstört. Ich weinte, als ich sah, wie Tausende von unschuldigen, friedlichen, wunderbaren Menschen, Kinder, Frauen und alte Menschen getötet wurden."

KANN MUSIK TRÖSTEN?

Die Verzweiflung ist groß, auch unter den Musikerinnen und Musikern aus der Ukraine, und die Musik selbst bietet nicht immer Trost. Sie kann aber dennoch weiterhelfen: für Verständigung und gegenseitiges Verstehen sorgen. Und in bestimmten Momenten Menschen auffangen, wie etwa Ganna Gryniva erzählt: Sie gab auch einige Willkommenskonzerte für Geflüchtete. Da konnten sich die Menschen in dieser für sie neuen Umgebung "Musik anhören, mit Worten, die sie verstehen". Gryniva: "Ich habe sehr viel Dankbarkeit und Erleichterung wahrgenommen. Leute haben gesagt: Ich konnte einfach für eine halbe Stunde Dinge vergessen, die man sonst nie vergisst."

Kommende Konzerte:

Ganna Gryniva tritt mit ihrem Ensemble am 10. Mai bei "Women in Jazz" in Halle auf, am 13. Mai im Stadttheater Rheinbach in Nordrhein-Westfalen und am 14. Mai im A-Trane-Jazzclub Berlin. Am 14. und 15. Juli wird sie beim Bayerischen Jazzweekend Regensburg zu erleben sein.

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