Früher spielte er gern mal eine Dreiviertelstunde durch. Ohne Pause. Keith Jarrett: der Marathon-Improvisator. Jetzt sind vier CDs mit Aufnahmen aus jener Zeit erschienen: Glanzlichter aus Italien.
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Es gibt tatsächlich auch bei einem auf dem CD-Markt so präsenten Musiker wie dem Pianisten Keith Jarrett noch Schätze zu heben – also jenem Pianisten, der mit "The Köln Concert" von 1975 alle Rekorde brach: rund 3 ½ Millionen Exemplare. Es ist die meistverkaufte Klavierplatte des Jazz und die meistverkaufte Klavier-Solo-Platte aller Genres. Dieser Tage ist eine Box mit bisher unveröffentlichten Aufnahmen Jarretts aus den 1990er Jahren erschienen: vier CDs mit Aufnahmen aus dem Oktober 1996, allesamt entstanden bei einer Serie von Solo-Konzerten in Italien, in einer Box mit dem Titel "A Multitude of Angels".
Bildquelle: ECM Records/ Rose Anne Colavito Diese Veröffentlichung wurde mit Spannung erwartet. Denn sie präsentiert Aufnahmen aus der Zeit, in der Jarrett bei Solo-Konzerten noch lange Strecken von manchmal über vierzig Minuten durchspielte wie damals in Köln, wie vorher schon in Bremen und Lausanne, wie später in Bregenz und München, in Paris, in Wien und nicht zuletzt in der Mailänder Scala. Die nun veröffentlichten Konzerte fanden statt, kurz bevor Keith Jarrett Ende der 1990er Jahre am sogenannten Chronischen Erschöpfungs-Syndrom litt. Es waren Jarretts letzte Konzerte vor einer Zwangspause. Unmittelbar danach trat der Pianist wegen dieser Krankheit zwei Jahre lang nicht auf. Und auch dann wagte er sich erst einmal nur mit seinem Trio vors Publikum. Erst allmählich begann er danach auch wieder mit Solo-Konzerten - aber mit dem Unterschied, dass er nun nicht mehr einen ganzen Set durchspielte, sondern kürzere Einheiten mit Pausen dazwischen improvisierte. Das ist die immer noch aktuelle Version des Solo-Künstlers Keith Jarrett - so erlebte man ihn auch diesen Sommer bei einem bejubelten Gastspiel in der Münchner Philharmonie.
Modena, Ferrara, Turin, Genua. Das waren die Stationen, die in dem neuen CD-Set dokumentiert werden. 23., 25., 28. und 30. Oktober 1996. "Das waren die letzten Konzerte, die ich ohne Pause innerhalb eines Sets spielte", schreibt Jarrett selbst auch im Beiheft. Er nennt diese Veröffentlichung ein "Major Event", also ein herausragendes Ereignis für ihn. Eines jener Ereignisse, die vor einem Wendepunkt stehen. Zwanzig Jahre sind diese Konzerte nun her. Im Frühjahr 2016 hörte sich Keith Jarrett die Aufnahmen von damals noch einmal "ernsthaft an", wie er schreibt, und am 9. Mai 2016 schrieb er für das Beiheft der CDs den Text, in dem er auch erklärt, weshalb die CD-Box "A Multitude of Angels" heißt, eine Vielzahl von Engeln.
So schreibt Jarrett über diese Konzerte: "Ich spürte eine Energie, die etwas Spirituelles hatte, aber manchmal war ich in einer Baptistenkirche, manchmal in einer Moschee; oder in Irland, in Spanien, in Afrika. Natürlich ging nichts davon durch meinen Kopf, als ich spielte, denn ich war damit beschäftigt, so zu spielen, als wäre es das letzte Mal." Etwas später kommen dann die Engel ins Spiel. "Dazu gehört jeder um mich herum; das Publikum, die Klaviere, die Krankheit (Engel des Todes?), … mein Manager und meine Frau (sicherlich nicht exakt in dieser Reihenfolge)." Jarrett fügt hinzu: "Ich schwöre es: Die Engel waren da." Und gegen Ende des Textes hebt er hervor: "Nachdem diese Konzerte vorbei waren, konnte ich zwei Jahre lang überhaupt nicht mehr spielen, und ohne die Unterstützung des Engels in meinem Haus, hätte ich vielleicht nie wieder gespielt."
Bildquelle: Daniela Yohannes/ECM Records Acht lange Teil-Stücke von jeweils mehr als einer halben Stunde (Modena Part I und II bis Genova Part I und II) sowie insgesamt vier Zugaben, darunter den Folksong "Danny Boy" und den Standard "Over The Rainbow", umfasst diese italienische Tetralogie. Und es sind Aufnahmen dabei, die sofort mitreißen. Zum Beispiel der erste Set aus Modena: Dieses Stück läuft 34 Minuten durch, beginnt ganz zart und lyrisch, versenkt sich in meditative Momente, bis die Melodien fast hymnisch werden, sich ein fast rockig zupackender Groove zu sanft aufstapfenden Füßen des Pianisten herausschält, sich in ekstatisch variierte Tonfolgen steigert und zu einem hitzigen instrumentalen Soul-Song wird, voller knisternder Bewegungs-Lust in den Bässen und davonfliegendem Temperament in den Höhen - ein wundervoller Sturm, der sich dann wieder legt und über geklopften Rhythmen auf dem Gehäuse des Flügels neue Spannung aufbaut und zwischendurch sogar in ungewohnte Klangregionen eindringt, die an barocke Triller auf einem Cembalo erinnern. Bis schließlich alles wieder zur leisen, gemessenen Stimmung des Anfangs zurückkehrt. Einen verblüffenden musikalischen Atem haben diese Stücke, einen Atem, der es dem Musiker erlaubte, einen Spannungsbogen wirklich über eine so lange Zeitstrecke zu halten.
Spürt man den Kampf? Dieses: Es könnten die letzten Konzerte sein? Schwer zu sagen. Das alles ist Interpretation. Es ist Musik, die ohnehin an Grenzen geht: ein Ausloten von Möglichkeiten des Spontanen. Das machte die Solo-Konzerte Keith Jarretts stets so spannend: das Gleiten von einer musikalischen Welt in viele andere, die dieser Musiker kennt; ein Musiker, der Bach, Barber, Bartók, Händel, Mozart, Pärt, Schostakowitsch und anderes mehr ebenfalls im Repertoire hat (oder zumindest hatte). Stürzt man sich als Hörer mit in ein solches Abenteuer, dann ist es wie ein Rausch: eine Reise mit unvorhersehbarem Verlauf und einem Ziel, von dem man hofft, dass es nicht allzu schnell erreicht wird. Genau das erlebt man hier mit: den Rausch des Immer-weiter-Spielens.
Bildquelle: imago/ZUMA Press Die einzelnen Konzerte sind ganz unterschiedlich zugänglich. Part I des letzten Konzerts, "Genova", verbeißt sich schier in klirrende, abstrakte Tonfolgen, die sich manisch-motorisch in eine kantige Unruhe hineinsteigern. Fast wie eine Spieluhr, deren Mechanismus am Ausrasten ist, klingt die Musik da stellenweise. In diesem, aber auch im vorletzten Konzert, "Torino", gibt es besonders viele Passagen dabei, in denen Keith Jarrett seiner Angewohnheit, beim Spielen mitzusummen, zu quengeln, zu knurren, besonders starken Lauf lässt. Einer, der wie angekettet ist an den Prozess seines ekstatischen Klavierspiels und der immer wieder mehr oder weniger unterdrückte Schreie der Befreiung - oder des Befreiungsversuchs - von sich gibt. Und dieses Stöhnen, Knurren, Quengeln, Schreien, das wird hier klar, gehört ganz wesentlich zu dieser Musik.
Denn mit und ohne den besonderen biographischen Hintergrund - denjenigen der letzten Konzerte vor der Krankheitspause - haben diese Aufnahmen etwas dezidiert Existentielles. Der Kampf um die Form, der spontan errungenen musikalischen Gestalt: Er ist in diesen Konzerten ganz besonders spürbar. Deutlicher als bei vielen anderen Aufnahmen Jarretts merkt man hier, dass man das das Entstehen von Kunstwerken erlebt: das allmähliche Suchen und Finden einer Form, das Ausgestalten der Details, das Lösen der Spannung nach dem Beenden eines Arbeitsprozesses. Was könnte spannender sein, erst recht in einer Zeit, in der Musik häufig auf ihren Wert als Verkaufsprodukt reduziert wird. Hier steht der dokumentierte und nachvollziehbar gemachte Prozess eindeutig vor dem schönen Produkt, das dabei auch entstand.
Jarrett, den Ungestümen, den Bluesigen, den Aufbegehrenden, den Souligen, den Dahinstürmenden, den Meditativen: All das kann man hier in neuen Variationen entdecken. Aber auch den Beseelten, ungemein Lyrischen. Letzte Zugabe, Genua, 30. Oktober 1996: "Over the Rainbow", der wunderschöne Song von Harold Arlen, den Jarrett schon mehrmals aufgenommen hat - und auch 2016 in der Münchner Philharmonie spielte. Jedes Mal klingt dieses Stück bei ihm anders - obwohl er sich bei Songs wie diesem ganz nah ans Thema hält. Er findet stets neue Stimmungsnuancen. Und hier, gleich ein Einstieg mit dem Oktavsprung des Themas, dies aber völlig zurückgenommen, leise, lyrisch, hauchzart, eine Melodie, die den Hörer wie auf einem weichen Kissen trägt – und später in ganz fein miteinander verschränkte, momentweise sogar kantige Stimmführungen mündet und nachdrückliches Pathos zulässt, bevor sie in einem sanften Arpeggio verhaucht. Auch das: Musik, die an Grenzen geht.
Keith Jarrett (Klavier)
Label: ECM