Keith Jarretts Gastspiel in der Philharmonie in München am 16. Juli 2016 war eine Sternstunde, aber auch ein Zeichen für Respektlosigkeit. Ein Kommentar.
Bildquelle: Daniela Yohannes/ECM Records
Wir hatten es geschafft. Gemeinsam. Bis hinauf über den Regenbogen. Unendlich weit, bunt, schillernd ist es dort oben und dann hat es geblitzt. Wir wurden auf den Boden der Tatsachen, der Kraftausdrücke und der Regelwidrigkeiten zurückgeholt.
Aber von vorne: Keith Jarrett, genialer Improvisator, Diva, entrückter Künstler durch und durch, hatte uns zwei Stunden lang beschenkt mit großartiger Musik. Und wir, das Publikum, hatten ihm das gegeben, was per zweisprachigem Flyer und - als Unterstreichung – zweisprachiger Ansage, wirklich allen bewusst war: ungeteilte und ungestörte Aufmerksamkeit. Er möchte sie nicht nur, er braucht sie. Und wir haben sie ihm gegeben. Vereinzeltes Husten mitten in einem weitgehend verregneten Sommer ist völlig in Ordnung, da hörte auch Jarrett entspannt darüber hinweg. Seine Laune war – und das ist wahr – blendend. Er ließ uns sogar an seiner inneren Seelenlandschaft teilhaben: "Manchmal spielt man in der Mitte eines Konzerts ein Stück, das eigentlich an den Schluss gehört. Da kann ich nicht in 20 Sekunden entscheiden, wie es weiter geht", sagt Jarrett ins Mikrophon und sammelt sich. Dann das Erstaunliche: Heute Abend könne das Publikum anscheinend nachvollziehen, was er fühlt.
Doch dann der Schluss-Moment: Wir hatten es doch geschafft. Standing Ovation nach "Over the Rainbow". Alle waren beseelt, da durchzucken Blitze den Saal. Einige wenige wollen etwas festhalten. Auf verwackelten, unscharfen Fotos aus viel zu großer Entfernung aufgenommen. Ein Bild, gemacht fürs sofortige Löschen.
Und was passiert: Das fragile Vertrauensverhältnis zerbröselt. Jarrett kann so etwas nicht auf sich sitzen lassen, die Spielregeln sind doch klar. Ein-, zwei-, dreimal der Kraftausdruck, dann seine entscheidende Frage an die Blitzenden: "Why did you come?", "Warum seid Ihr gekommen?"
Man kennt die Regeln und trotzdem wird abgewartet, bis Jarrett alles gegeben hat, sein Innerstes, und in diesem Moment, fällt das Blitzlicht über ihn her. Warum zahlt man einen stattlichen Betrag für ein Ticket, um einfach nicht akzeptieren und respektieren zu können, dass die vermeintliche individuelle Freiheit jemand anderen stören, beleideigen, sogar verletzten kann. Die geschossenen Fotos haben keinen Wert, sie zeigen vielmehr, wie abhängig und unfrei uns die modernen Geräte gemacht haben. Das Konzert hat dadurch ein unschönes Ende genommen. Das hat es nicht verdient. Es war eine Sternstunde.
Was wäre, hätte niemand fotografiert? Er hätte vielleicht nochmal gespielt. Was hätte er erklingen lassen? Musik, die wir wegen Menschen, die Keith Jarrett wohl nur sehen wollen und zwar durch ein Display, nie hören werden. Schade!