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Zum Tod der Sängerin Annie Ross Von Swing umschlungen

Wie eine Trompete oder ein Altsaxophon konnte ihre Stimme klingen, aber sie konnte auch ganz gefühlvoll die Geschichte eines Songs rüberbringen. Die Jazzsängerin Annie Ross ist am 21. Juli 2020, vier Tage vor ihrem 90. Geburtstag gestorben.

Sängerin Annie Ross | Bildquelle: picture alliance / Heritage-Images

Bildquelle: picture alliance / Heritage-Images

"Meine Mama und mein Papa wollten, dass ich ein Star werde. Sie nannten mich die schottische Shirley Temple", da blieb Annie Ross eigentlich nichts Anderes übrig.

Annabelle "Annie" Short wurde in Mitcham, Surrey, als Tochter eines schottischen Schauspielerehepaars geboren und wuchs in Glasgow auf. Annie war für die Bühne bestimmt und wurde schon in die elterliche Show eingebunden, als sie drei Jahre alt war. Ein Jahr später wanderte sie mit ihrer Familie in die USA aus und schon kurz nach ihrer Ankunft in New York gewann sie im Rahmen eines Kinderradiowettbewerbs einen sechsmonatigen Vertrag bei einem Plattenlabel. Da war der Grundstein gelegt für die Karriere. Ihr Tante, die Sängerin Ella Logan, nahm sie unter ihre Fittiche und zeigte Annie die Musik von Ella Fitzgerald, Billie Holiday und Louis Armstrong.

TEXTE ÜBER BERÜHMTEN SOLI: "VOCALESE"

Mit 17 Jahren verließ Annie die Schule, ging zurück nach Europa, nahm den Nachnamen ihrer irischen Großmutter "Ross" an, sang in Londoner Clubs, ging nach Paris und wirkte dort an einer Plattenaufnahme mit Saxophonist James Moody mit.

Er nahm sie wieder mit in die USA und 1952 ging Annie Ross mit ihrer eigenen Band ins Studio. Schon in dieser Zeit ließ sie sich Texte zu instrumentalen Soli schreiben, die sie dann äußerst virtuos sang. Ein Verfahren, dass man als „Vocalese“ bezeichnete und das zu Annie Ross‘ Markenzeichen werden sollte, gemeinsam mit den Sängern Dave Lambert und Jon Hendricks.

"SIE KONNTEN KEIN BISSCHEN SWINGEN"

Mit Dave Lambert hatte Annie Ross schon zusammengearbeitet, bei einem neuen Projekt im Jahr 1957 stieß Sänger Jon Hendricks hinzu. Er war nicht nur ein herausragender Sänger, er schrieb auch großartige Vocalese-Texte. Die ursprüngliche Idee des Projekts war, berühmte Bigband-Aufnahmen von Count Basie in Chorsätze zu transformieren, die Soli mit Text zu versehen und von Studiosängern singen zu lassen. Annie Ross sollte diese Sänger instruieren. "Ich war ein bisschen sauer, weil ich gehofft hatte, sie wollten, dass ich singe, und als sie die Sache mit dem Coaching erwähnten, musste ich einfach lachen, denn man kann jemandem das Basie-Gefühl nicht in einer halben Stunde beibringen! Ich versuchte mein Bestes, doch es war schrecklich, sie konnten kein bisschen swingen."

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« Every day I have the blues » par le Trio Lambert-Hendricks-Ross et Ozzie Smith (1961)

SO EINE MUSIK HATTE MAN NOCH NIE GEHÖRT

Jon Hendricks zusammen mit Annie Ross und George Fame bei den Berliner Jazztagen 1968 | Bildquelle: Bayerisches Jazzinstitut/Ludwig Binder Annie Ross zusammen mit Jon Hendricks und George Fame bei den Berliner Jazztagen 1968 | Bildquelle: Bayerisches Jazzinstitut/Ludwig Binder Lambert, Hendricks und Ross beschlossen nun, selbst alle Instrumentalstimmen im Multitrack-Vverfahren aufzunehmen - ein Verfahren, das Mitte des 20. Jahrhunderts technisch noch nicht so selbstverständlich war wie heute. Es dauerte lang und kostete viel. Produzent Creed Taylor ging allerdings auf das Vorhaben ein, hielt es aber vor seinen Chefs geheim, die aus Kostengründen das Projekt gestoppt hätten. Ross und die Sänger wurden also nicht für den ganzen Aufwand bezahlt, und es lief auch nicht alles glatt. Weil sie damals aber keine anderen Engagements hatten, arbeiteten sie einfach weiter an diesem Projekt und es wurde zum Erfolg. So eine Musik hatte man zuvor noch nicht gehört: kunstvoll und im Bebop-stil ineinander geflochtene Gesangsmelodien, mal mit, mal ohne Text. Herrlich verschlungene Gesangsstimmen, so virtuos und flexibelle wie Blasinstrumenten, aber auch so unterhaltsam und augenzwinkernd, wegen der genialen Texte Jon Hendricks‘.

SCHWERE ZEITEN IN DEN SECHZIGERN UND SIEBZIGERN

Fünf Jahre bildete Annie Ross mit Jon Hendricks und Dave Lambert ein sehr erfolgreiches Trio, mit dem sie zahlreiche Platten machten. Leider wurden die Tourneen für die Sängerin, der höchste Vokal-Aakrobatik abgefordert wurde, zu anstrengend. Während eines Gastspiels in London stieg sie 1962 krankheitsbedingt aus, auch um sich den Problemen ihrer Drogensucht zu stellen - was, erfolgreich war.

Sie arbeitete viel, konnte aber mit keinem späteren Album an den früheren Erfolg anknüpfen. Die 70er Jahre waren eine harte Zeit für Annie Ross: Scheidung, Bankrott, Hausverlust, Unterbeschäftigung. Doch es ging wieder bergauf. Sie verfolgte hauptsächlich eine Schauspiel-Karriere im Film und auf der Bühne. Robert Altmans Film "Short Cuts" war 1993 ein Höhepunkt.

"VERDAMMT, ICH BIN DOCH IMMER NOCH GUT"

Sängerin Annie Ross zusammen mit Jon Hendricks beim North Sea Jazz Festival im Jahr 1999 | Bildquelle: picture alliance / Heritage-Images Bildquelle: picture alliance / Heritage-Images Der New York Times gab Annie Ross im selben Jahr ein Interview in dem sie beschrieb, wie es einer Künstlerin geht, die vor allem wegen langzurückliegender Ereignisse erkannt wird: "Die Leute sagen: 'Oh, Sie waren doch eine großartige Sängerin', und du sagst danke, denkst aber, verdammt, ich bin doch immer noch eine großartige Sängerin".

Federleicht und schwerelos sind manche ihrer Scat-Eeinlagen in ihren Songs, so war das Leben sich nicht immer für Annie Ross. Eine große Stimme des Jazz, die am 21. Juli 2020, nur vier Tage vor ihrem 90. Geburtstag, für immer verstummt ist.

Radio-Tipp:

Classic Sounds in Jazz am 22. Juli 2020
Serenity meets Virtuosity
Gelassene und feurige Jazzklänge von den Sängerinnen Annie Ross und Catherine Russell, Saxophonist Joe Henderson, Pianist Michel Petrucciani und anderen.
Moderation und Auswahl: Ulrich Habersetzer

radioJazznacht auf BAYERN 2, Nacht auf Sonntag, 26.07.2020
Trompeter, Gitarrist, Schriftsteller - Abschied von Martin Spiegelberg
Twisted - Nachruf auf Annie Ross
Moderation: Marcus A. Woelfle

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