Südostanatolien oder Mesopotamien – eine abgelegene Gegend in der Türkei, in der man auf viele verschiedene Kulturen und Musikstile trifft: Arabische Instrumentalmusik, syrisch-orthodoxe Kirchengesänge, kurdische Lieder. Eine Reise mit vielen musikalischen Eindrücken und Begegnungen, etwa mit der kurdischen Sängerin Sakina Teyna, die über das teils harmonische, teils komplizierte Miteinander der Volksgruppen spricht.
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Mesopotamien, so wird das Land zwischen den zwei Flüssen Euphrat und Tigris genannt. Der Name lässt an eine mythische Vergangenheit und an antike Hochkulturen denken. Aber auch heute noch ist die Region ein Gebiet, in dem sich viele Volksgruppen, Sprachen, Religionen und Kulturen begegnen. Auf den Überlandstraßen in dieser abgelegenen Gegend der Türkei weisen Schilder den Weg nach Aleppo in Syrien, Mossul im Irak oder Tabriz im Iran. Die Grenzen zu den Nachbarländern sind nah, und die unterschiedlichen Kulturen haben diese Grenzen schon seit Jahrhunderten überschritten.
Man sieht hier die Einflüsse der arabischen, persischen, kurdischen oder armenischen Musik
Sakina Teya | Bildquelle: © Derya Schubert Gülcehre Südostanatolien ist vor allem kurdisch geprägt, außerdem merkt man den arabischen Einfluss. Es ist aber auch das Gebiet der Assyrer und Aramäer, also der Anhänger des syrischen Christentums. Diese Vielfalt spiegelt sich auch in der Musik wider.
„Man sieht hier die Einflüsse der arabischen, persischen, kurdischen oder armenischen Musik. Das finde ich ganz normal, wenn man gemeinsam musiziert und die gleichen Instrumente spielt, und das soll auch so bleiben“, sagt die kurdische Sängerin Sakina Teyna, die aus politischen Gründen aus ihrer Heimat geflüchtet ist und mittlerweile in Wien lebt.
Wir kommen in die Stadt Şanlıurfa, einen heiligen Ort des Islam mit vielen Bezügen zum Christentum. Die Stadt gilt als der Geburtsort der beiden biblischen Figuren Abraham und Hiob, im Islam verehrt als die Propheten Ibrahim und Aiyub.
Sanliurfa - Geburtsgrotte Abrahams | Bildquelle: © Florian Heurich Die Geburtsgrotte Abrahams, über der eine große Moschee errichtet wurde, ist eines der wichtigsten Pilgerziele des Islams. Am nahe gelegenen Karpfenbassin soll Abraham der Legende nach wegen seines Glaubens zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt worden sein. Das Feuer verwandelte sich jedoch in Wasser, die Holzscheite in Fische, und Abraham wurde gerettet. Seither gelten das Becken und die Karpfen als heilig und werden von Pilgern nicht nur des Islams, sondern auch des Christentums und des Judentums aufgesucht. Dementsprechend handeln auch viele Lieder vom Leben und den Taten Abrahams oder Ibrahims.
Trotz der spirituellen Atmosphäre ist Şanlıurfa aber auch bekannt für ein durch und durch weltliches musikalisches Spektakel. In sogenannten Sira-Nächten wird viele Stunden lang gegessen und getrunken, und dazu gibt es Musik-, Tanz- und Folkloredarbietungen. Ursprünglich waren diese Veranstaltungen wöchentliche Nachbarschafts- oder Familientreffen zum gegenseitigen Austausch.
Entlang der syrischen Grenze fahren wir weiter hinein in den Südosten Anatoliens und erreichen Mardin. Seit Jahrhunderten sind die Stadt und die umliegende Region Tur Abdin das Gebiet der Assyrer oder Aramäer, also der syrisch-orthodoxen Christen, und immer noch lebt hier eine kleine Gemeinde, die in den Kirchen und Klöstern jeden Sonntag Gottesdienst feiert und die historischen Gebäude mit Leben füllt.
Unsere Kirchenmusik geht zurück bis zu den Anfängen des Christentums
Mardin | Bildquelle: © Florian Heurich „Die ersten Christen kamen von Jerusalem zunächst nach Antiochia und dann nach Tur Abdin. Im Jahr 395 haben sie dort das erste Kloster Mor Gabriel gebaut“, so Abrahim Lahdo aus der assyrischen Gemeinde in Wiesbaden. Der Heilige Afrem habe bereits um 330 die Musik in den Ritus der Assyrer eingeführt, damit seien die syrisch-orthodoxen Gesänge die ältesten kirchenmusikalischen Zeugnisse des Christentums. Wie fast alle orientalische Musik bauen sie auf dem Maqam-System der arabischen Musik auf. Jeder dieser Modi steht für eine bestimmte Stimmung und wird dementsprechend auch in der Liturgie verwendet.
Diyarbakir - Platz vor der Moschee | Bildquelle: © Florian Heurich Wir kommen nach Diyarbakir, in die heimliche Hauptstadt der türkischen Kurden auf einem Hügel an den Ufern des Tigris. Dynamisch, energiegeladen, gastfreundlich, voller Leben. Heute pflegt man offen und mit Stolz die kurdische Kultur. Dass dies aber nicht immer so war, hat die nun in Österreich lebende Sängerin Sakina Teyna selbst miterlebt. „Die kurdische Musik wurde in der Türkei sehr stark unterdrückt im Zuge einer Assimilationspolitik. In meiner Kindheit konnten wir kurdische Lieder nur im Geheimen hören. Etwa über Radio Eriwan, wo am Abend 45 Minuten auf Kurdisch gesendet wurden.“ Und Sakina Teyna berichtet von der alten Tradition sogenannter Dengbejs – Barden oder fahrende Sänger, die singend Geschichten erzählten und so die kurdische Kultur und Musik weitertrugen.
Kurdische Musik ist immer politisch, egal ob man ein Liebeslied singt oder ein Statement abgibt
„Eigentlich sollte es doch ganz normal sein, dass ein Volk in seiner eigenen Sprache singt“, so Sakina Teyna, die sich mit ihrer Musik für diese Normalität einsetzt und nun im Ausland die Geschichten aus Anatolien weitererzählt. Aber auch in Diyarbakir präsentiert sich die kurdische Kultur heute von ihrer selbstbewussten Seite: in den belebten Teestuben im Zentrum oder in den quirligen Einkaufstraßen, wo es passieren kann, dass Leute am Abend spontan zu singen und tanzen beginnen und Passanten sich gleich mit einreihen.
Bildquelle: Florian Heurich
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Straßenmusiker in Diyarbakir
So wie Euphrat und Tigris in Mesopotamien ihre Quelle haben und sich ihren Weg durch die Ebene bahnen, bevor sie schließlich ineinander fließen, so treffen sich in Südostanatolien auch die Kulturen. Sie bewahren ihre Individualität, sie mischen sich aber auch. „Ein Aramäer kann auf Kurdisch sprechen. Ein Kurde kann Aramäisch sprechen. Araber können auf Kurdisch sprechen. Und das auf türkischem Boden. Das ist so ein schönes Bild. Warum sollen die bitte Feinde sein?“, sagt Sakina Teyna, und die Musik kann dabei die Menschen zusammenbringen.
Meret – Festival Verbotene Stimmen
Freitag, 11. November 2022 – 20:00 Uhr
Saal X | Gasteig HP8
Mit Iran-Jazz von Golnar Shahyar & Band, traditioneller kurdischer Musik von Sakina Teyna & Band, iranischer Folklore mit Mahya Hamedi & Band und palästinensichem Jazz-Pop von Rasha Nahas & Band.
Weitere Infos und Tickets unter gasteig.de
Sendung: "Musik der Welt" am 16. Oktober 2022 ab 23.05 Uhr auf BR-KLASSIK