Kleines Jubiläum, große Auftritte: Beim zehnten Jazzfestival im schwedischen Ystad feierten im Sommer 2019 zwei Legenden auf unterschiedliche Art ihre Musik: Benny Golson und Charles Lloyd.
Bildquelle: Roland Spiegel
(Bild: Saxophonist Charles Lloyd beim Jazzfestival Ystad)
Glück hat ein Festival, wenn es solche Abschlusskonzerte bieten kann: Jubel für den amerikanischen Saxophonisten Charles Lloyd und seine um mehrere Generationen jüngere Band nach einem zweistündigen Auftritt voller sensationeller Momente! Charles Lloyd, seit fast sechzig Jahren in der Jazzwelt berühmt, ist 81 Jahre alt und spielt das Tenorsaxophon mit einer Tonschönheit wie in seinen Dreißigern. Mit Strickmütze, Sonnenbrille und lockerer weiß-beiger Kleidung steht er schlaksig auf der Bühne und lässt die Töne voller Lust durch die Melodiebögen schweifen, verziert sie hier mit einem Lauf, dort mit kleinen, wirbelnden Figuren – und gestaltet Soli immer noch mit verblüffender Intensität. Wenn Lloyd mit seinen hellen, klaren Saxophontönen den Himmel anjauchzt, sorgt er bei Zuhörern zugleich für Staunen und für seltene Glücksgefühle. Der Auftritt seiner aktuellen Band unter dem Motto "Kindred Spirits" – in Top-Besetzung an allen Instrumenten mit Julian Lage und Marvin Sewell (Gitarren), Reuben Rogers (E-Bass) und Eric Harland (Schlagzeug) – war der Traum-Schlusspunkt eines Programms voller bekannter Namen. Neben Charles Lloyd gehörten auch etwa dessen noch einmal neun Jahre älterer Kollege Benny Golson, der kubanische Pianist Omar Sosa, die brasilianische Sängerin Joyce Moreno oder der junge europäische Saxophon-Senkrechtstarter Maciej Obara zu den Attraktionen im Jubiläumsprogramm.
Blumenschmuck für ein 125 Jahre altes Schmuckstück: Das Theater Ystad, der Hauptspielort des Jazzfestivals | Bildquelle: Roland Spiegel Das "Ystad Sweden Jazz Festival" an einem Ort in Südschweden, der jedes Jahr mindestens in den ersten August-Tagen auch bei unbeständigem Wetter eine Idylle ist, feierte jetzt nicht nur zehnjähriges Bestehen, sondern am Ende auch einen Besucherrekord. Festival-Präsident Thomas Lantz, der die Veranstaltung einst zusammen mit dem in Ystad lebenden Pianisten Jan Lundgren aus der Taufe hob, verkündete vor dem letzten Konzert die Zahl von 11.000 Besuchern. Jan Lundgren, der künstlerische Leiter des Festivals und fürs Publikum das Gesicht und die Qualitätsgarantie der Veranstaltung, wirkte nach den fünf vollgepackten Tagen erschöpft und gelöst zugleich. Denn an Orten wie dem beschaulichen Theater von 1894 mit 400 Plätzen und sympathischer Patina in den Foyers und Treppenaufgängen haben er und 124 ehrenamtliche Helfer wieder eine Veranstaltung gestemmt, die ihre Gäste mit besonders freundlicher Atmosphäre empfängt. Grüblerische Wallander-Momente in regennassen, selten tröstlichen Straßen, und Kleinstadt-Trübseligkeit, wie sie so manche hier gedrehte TV-Krimi-Folge prägt, waren weit weg, wenn man einige der insgesamt über vierzig Konzerte an insgesamt zwölf Spielstätten mit sehr farbig gemischtem Programm erleben konnte.
Beim Konzert der Band von Charles Lloyd waren sie am stärksten: diese Momente, bei denen man alles andere vergisst. Wie sich in langen Stücken, etwa der episch und klangschön immer weiter fließenden Lloyd-Komposition "Booker's Garden", eine wie selbstverständliche Trance entwickelte, hatte eine ganz eigene Magie und verwandelte das Publikum von Neugierigen in verblüfft Lauschende. Lloyd selbst wechselte zwischen Tenorsaxophon und Querflöte, ansonsten gesellte er sich mit einigen Rasseln, die er tänzelnd und scheinbar versunken schüttelte, zum Schlagzeug und beobachtete lächelnd seine jungen Kollegen, denen er breiten Raum gab. Die beiden Gitarristen Julian Lage und Marvin Sewell überboten sich dabei fast mit immer noch spannenderen Soli und langen unbegleiteten Solo-Einlagen: Julian Lage mit einer mehrstimmigen Fantasie, in der Bach genauso aufschien wie die Klangwelt der Jazzsängerin Billie Holiday, Marvin Sewell mit einem Blues-Stück, in dem die per Bottleneck gespielte Gitarre einen eindringlichen Dialog mit sich selbst zu führen schien. Und dazu die vielen Feinheiten, die Drummer Eric Harland und Bassist Reuben Rogers beisteuern: Diese Band ist eine Sensation.
Ruhiger Moment für den 90-jährigen Benny Golson bei seinem Konzert mit der Norbotten Big Band | Bildquelle: Roland Spiegel Charles Lloyd sprach nur mit dem Saxophon zum Publikum, dies aber besonders eindringlich. Sein Kollege Benny Golson, Ehrengast des diesjährigen Festivals, zeigte beim Auftritt mit der schwedischen Norbotten Big Band auch seine Seite als launiger Erzähler. Golson, neunzig Jahre alt und Komponist so berühmter Jazzstücke wie "Whisper not", "Along Came Betty" und "Killer Joe", noch immer modebewusst mit schwarzem Jackett, roter Krawatte und weißer Hose, spielte auf Anhieb seinen funkelnden Humor aus. "So You're the Ones who Made Me Famous!", waren seine ersten Worte ans Publikum, bevor er mit der Big Band die erwähnten und andere seiner Klassiker spielte. Sein Saxophon-Ton ist nicht mehr so konturenscharf wie einst, aber wenn Golson improvisiert, spürt man den Komponisten in ihm: Schon seine Einsätze überraschen, wenn er etwa mit einem spannungsvoll querstehenden Ton eine Improvisation beginnt, mit markantem Stakkato den Tonraum umreißt und sich allmählich in schnelle, bluesgetönte Eloquenz steigert. Zweimal ist zwischen den Stücken auch Platz für Anekdoten, und Golson erzählt mit funkelnden Ausschmückungen die Geschichten, wie er einst "Killer Joe" schrieb und der berühmte "Blues March" für die "Messengers" von Schlagzeuger Art Blakey beinahe nicht zustande gekommen wäre. Als Golson am Ende sagt, dass er leider dieses Publikum nicht mit nach New York nehmen könne und deshalb darauf zähle, bald einmal wiederzukommen, feiern ihn alle einhellig.
Nicht nur Legenden leistete sich dieses Festival zum Jubiläum, sondern auch junge Attraktionen wie etwa den Saxophonisten Maciej Obara, dessen Quartett eines der kreativsten der aktuellen europäischen Szene ist (mit Dominik Wania, Klavier, Mats Eilertsen, Bass, Gard Nilsson, Schlagzeug), leider aber in einem zu kleinen Raum ("Konstmuseum"). Er gehörte zu einem kleinen Programmschwerpunkt zum 50-jährigen Bestehen des Münchner Labels ECM. Innerhalb dieses Schwerpunkts war auch der dänische Gitarrist Jacob Bro zusammen mit dem Trompeter Palle Mikkelborg, ebenfalls aus Dänemark und eine große Stimme des Avantgarde-Jazz seit Jahrzehnten, sowie dem Schlagzeuger Jorge Rossy in der "S.ta Maria Kyrka" Ystads zu erleben: ein Highlight in Sachen vielfältiger, stilvoller Trio-Kommunikation mit einer Musik, die wunderschöne elegische Passagen mit gewitternd alarmierenden konfrontierte. Palle Mikkelborg, geboren 1941, beeindruckte durch einen nach wie vor ungemein klaren Trompeten- und Flügelhornklang.
Trompeter Paolo Fresu beim Konzert im Theater Ystad | Bildquelle: Roland Spiegel Ein Festival wie das in Ystad ist für Entdeckungsfreudige gemacht. Man kann Orte wie den charmanten alten Innenhof "Per Helsas Gard" (mit Fachwerk, Ziegelstein und Birnbaum) genießen und Swing hören, kann im "Sövde Amfiteater" außerhalb der Stadt im Grünen auf Campingstühlen einer schwedischen Countrysängerin (Jill Johnson) zuhören, die Jazz-Standards singt – und das ziemlich gut macht. Man kann im Saal eines Hotels einen stilvollen Auftritt der portugiesischen Sängerin Cristina Branco (mit vorzüglich arrangierten Begleitungen einer dreiköpfigen Band) genießen und die Brasilianerin Joyce Moreno erleben, die mit vielen Bossa-Nova-Legenden vertraut war und eine hervorragende Gitarristin und Vokalistin ist. Man kann im Theater Pianist Jan Lundgren mit einem großen Blasorchester hören, dem über 20-köpfigen Göteborg Wind Orchestra – und am nächsten Tag mit Akkordeonist Richard Galliano und Trompeter Paolo Fresu in der stürmisch bejubelten Neuauflage des Trios "Mare nostrum". Man kann sich wundern über die vielen leeren Phrasen im Spiel des polnischen Klaviervirtuosen Leszek Mozdzer im Trio mit dem dänischen Bassisten Lars Danielsson und dem israelischen Perkussionisten Zohar Fresco.
Und man kann staunen, wie lebendig in Skandinavien der Swing ist – in einer Hommage an den 2017 hundertjährig verstorbenen dänischen Geiger Svend Asmussen mit Musikern rund um den Gitarristen Jacob Fischer und die Sängerin Sinne Eeg; darunter drei sehr begabte junge Jazzer, der Mundharmonika-Spieler Filip Jers, der Geiger Bjarke Folgren und der Sänger Mads Mathias. Ein Abend voller stilvoller Gelassenheit – in Anwesenheit von Svend Asmussens Witwe Ellen Bick Asmussen. Und man kann unterschiedlichen musikalischen Geschmäckern nachgehen: ob im Konzert mit Hammondorganist Joey DeFrancesco, der auch je eine Nummer als Trompeter und als Tenorsaxophonist spielte und im Trompetensolo auch auf seine Zeit als 17-Jähriger auf Tour mit Miles Davis anspielte, mit einigen Tönen von "Time After Time"; oder in demjenigen des kubanischen Pianisten und Komponisten Omar Sosa mit der NDR-Bigband unter der Leitung von Geir Lysne, die die rhythmische bewegte Musik des ganz in Weiß und Rot gekleideten Gaststars mit vielen fein durchwirkten Klangzutaten ausstattete.
Raum wird zum Klang: Saxophonistin Nicole Johänntgen in der Kosterkirche in Ystad | Bildquelle: Roland Spiegel Einen besonders nachhaltigen Eindruck hinterließ die deutsche Saxophonistin Nicole Johänntgen (Jahrgang 1981), die ein außergewöhnliches Soloprogramm in der aus dem 13. Jahrhundert stammenden Klosterkirche spielte. Dieser Kirchenraum hat einen Nachhall von sechs Sekunden – und den nutzte die Musikerin für innige Klänge des Altsaxophons, die sich viel Zeit nahmen. Sie schritt beim Spielen das ganze Kirchenschiff ab, entließ lange, zarte Töne in den Raum, dann wieder schnelle Arpeggien, so dass die Töne sich überlagerten und eine reizvolle Mehrstimmigkeit entstand. In den Morgenstunden spielte sie, erschloss sich den Kirchenraum langsam schreitend und mit sich behutsam ausbreitenden Tönen, und mancher war hinterher davon überzeugt, dass dies die beste Möglichkeit sei, musikalisch den Tag zu beginnen. Ein Klang-Erlebnis, das auf sehr feine Art etwas Spirituelles hatte und begeisterte Zuhörer hinterließ. Eine Musik-Erfahrung jenseits von geschäftiger Betriebsamkeit, so existenziell wie leise. Über solche Momente kann sich jedes Festival glücklich schätzen – schön, dass Ystad sie möglich machte.