Ätherische, sparsam arrangierte Gesänge und Klänge stehen in krassem Gegensatz zu apokalyptischen Schilderungen. Das neue Album von Arianna Savall und Petter Udland Johansen widmet sich mit "El cant de la Sibil.la" und dem norwegischen "Draumkvedet" gleich zwei inhaltlich eng miteinander verwandten alten Lieddichtungen.
Bildquelle: Carpe Diem Records
"El Cant de la Sibil.la" und das norwegischen "Draumkvedet": Beide beschreiben christliche Endzeitszenarien und die Ankunft des Jüngsten Gerichts, sind aber nicht kirchlichen Ursprungs, sondern tief in den regionalen Traditionen verwurzelt. Der Gesang der Sibil.la ist heute immaterielles Weltkulturerbe und wird an Weihnachten noch auf Mallorca und Sardinien gesungen. Der Brauch geht bis ins frühe Mittelalter zurück und basiert auf den Weissagungen der antiken Sibyllen, die dann im Christentum zu volkstümlichen Prophetinnen umdeklariert wurden.
Das ebenfalls mittelalterliche Draumkvedet, das Traumgedicht, ist ein bedeutendes nationales Erbe von Norwegen. Die Ballade wurde erst im 19. Jahrhundert anhand mündlich überlieferter Teilverse verschriftlicht und zu einer durchgehenden Erzählung zusammengefasst. Die Bilder und Vorstellungen darin stammen aus der katholischen Zeit vor der Einführung der Reformation in Norwegen und gehen teilweise noch weiter zurück auf uralte nordischen Mythen und Sagen. Die Rahmenhandlung von Draumkvedet, die Vision einer Reise durch das Totenreich, spielt sich in der Weihnachtszeit ab.
Die Musik dazu verorten Arianna Savall und Petter Udland Johansen im 14. bis 16. Jahrhundert. Die beiden sind das perfekte Paar für die Kombination von Musik des europäischen Nordens und Südens, und dies ist auch das Steckenpferd ihres Ensembles Hirundo Maris. Sie haben die einstimmigen Verse ergänzt mit authentischen und auch authentisch musizierten Chor- und Instrumentalstücken dieser Zeit, steuern aber auch eigene Kompositionen bei. Die Arrangements auf der Basis von Mittelalter- und Renaissancemusik und -instrumentarium erschaffen eine sphärische Klangwelt mit Glocken und Klangschalen, historischen Zupf-, Streich- und Blasinstrumenten bis hin zu der kuriosen "Dobro d'Amore", einer Viola d'amore in Kombination mit der Spielweise einer Resonatorgitarre. Die typischen Slide-Klänge sind auf faszinierende Weise so unpassend wie passend zugleich.
Eine ungewöhnliche CD, die in einer Zeit, in der die Welt aus den Fugen zu geraten scheint, darauf aufmerksam macht, dass dies in der Menschheitsgeschichte wahrlich nicht zum ersten Mal so ist. Diese Erkenntnis ist eine Mahnung, aber auch ein Trost – nicht zuletzt ein musikalischer.
Arianna Savall, Petter Udland Johansen
Ensemble Hirundo Maris, Ensemble Vocal de Saint Maurice
Label: Carpe Diem Records
Sendungsthema aus "Tafel-Confect" vom 10. Dezember 2023, 12.05 Uhr auf BR-KLASSIK