Sexuelle Gewalt gegen Frauen durchzieht die ganze Menschheitsgeschichte. So löste die Vergewaltigung der Lucretia politische Umwälzungen in Rom aus. Eine neue CD mit vier großartigen Sängerinnen widmet sich ihrem Schicksal.
Bildquelle: Aparte
Lucretia war eine stolze Römerin; eines Tages besuchte sie der etruskische Königsohn Sextus Tarquinius unter einem Vorwand und vergewaltigte sie. Mit der Scham wollte sie nicht leben und brachte sich um. Das römische Volk war so entsetzt von der Tat des Tarquinius, dass es die etruskischen Könige stürzte und die Republik einführten. Nie mehr sollte ein einzelner Mensch so viel Macht ohne jegliche Kontrolle ausüben können. Lucretia wurde zum Inbild der ehrenhaften Frau und ihre Geschichte zum Gründungsmythos der römischen Republik.
Vier Barockkomponisten aus drei Ländern schrieben italienische Kantaten über Lucretias Schicksal: Alessandro Scarlatti, Michel Pignolet de Montéclair, Georg Friedrich Händel und Benedetto Marcello. Sie alle sind nun auf einer CD erschienen mit dem Ensemble Les Paladins unter der Leitung von Jérôme Correas sowie vier großartigen Solistinnen: Sandrine Piau, Amel Brahim-Djelloul, Karine Deshayes und Lucile Richardot.
Oft heißt es, die weltliche Kantate sei eine Art Miniaturoper. Das ist aber nur die halbe Wahrheit, denn die Kantate erzählt keine äußere Handlung. Sie begleitet vielmehr eine Person an einem entscheidenden Wendepunkt ihres Lebens, reflektiert ihre inneren Widersprüche, Gedanken und Gefühle wie unter dem Brennglas. Lucretias Verzweiflung mündet in den Entschluss, sich das Leben zu nehmen. Und es ist frappierend zu hören, wie die Komponisten diesen Schlüsselmoment musikalisch inszenieren. Montéclair und Händel rücken Lucretias Stolz und Stärke in den Vordergrund – sie wandelt ihre Scham in einen Triumph um, sieht ihren selbst gewählten Tod als Sieg über den Verbrecher. Das Schicksal der leidenden Frau rücken hingegen die anderen beiden Komponisten der CD ins Zentrum: Alessandro Scarlatti und Benedetto Marcello. Bei Scarlatti seufzt die Singstimme alleine ein verzweifeltes, aber dennoch stolzes Addio. Bei Marcello folgt auf den Abschiedsgruß noch ein verhauchender Celloton, der den ersterbenden Atem darstellt.
Vier äußerst bewegende Werke der Barockmusik auf einer CD – aber das ist noch nicht alles. In jeder Kantate leiht eine andere Sängerin Lucretia ihre Stimme. Die Frage danach, wer von ihnen am besten gefällt, stellt sich gar nicht so, denn jede findet genau den für sie richtigen Ton in der Ausgestaltung dieser tiefgründigen Rolle und vermag es, jeweils mit ihrem ganz speziellen Timbre eigene Akzente zu setzen. Vier verschiedene Stimmcharaktere für vier verschiedene Sichtweisen auf eine Frau, deren Leben durch Gewalt aus den Fugen geraten ist.
Alessandro Scarlatti, Michel Pignolet de Montéclair, Georg Friedrich Händel, Benedetto Marcello
Sandrine Piau (Sopran), Amel Brahim-Djelloul (Sopran), Karine Deshayes (Sopran), Lucile Richardot (Mezzosopran)
Les Paladins, Leitung: Jérôme Correas
Label: Aparte
Sendungsthema aus "Tafel-Confect" vom 8. Dezember 2024, 12.05 Uhr auf BR-KLASSIK