Tausende von Kompositionen in Mittelalter, Renaissance und Barock tragen keinen Komponistennamen. Man legte schlicht keinen Wert auf den Namen des Künstlers. Ein Bewusstsein für die Bedeutung des Komponisten wuchs erst langsam im 15. Jahrhundert.
Bildquelle: picture-alliance/dpa
Vielleicht denken Sie bei Anonymus zuerst an die maskierten Demonstranten, die für die Freiheit des Internets und gegen globale Konzerne auf die Straße gehen. Sie tragen weiße Masken mit Schnauzer und Kinnbart. Anonymus nennt sich dieses weltweit agierende Protest-Kollektiv. Möglicherweise denken Sie bei Anonymus aber auch an den gleichnamigen Mantel- und Degenfilm von Roland Emmerich, der sich der Frage widmet, wer denn nun der große Unbekannte war, der Shakespeares Werke geschrieben haben soll. Oder es fallen Ihnen die anonym verfassten Berichte von Insidern aus dem Weißen Haus ein, die wenig Schmeichelhaftes über Präsidenten wie Bill Clinton oder Donald Trump ausplaudern. Gemeinsam ist all diesen Anonymen eines: Sie wollen nicht erkannt werden.
In der Musik des Mittelalters, der Renaissance und auch noch des Barocks ist die Lage eine andere. Hier gibt es Tausende von Kompositionen unbekannter Verfasser. Da wird dann heute anstatt des Komponistennamens Anonymus oder N.N. eingetragen – ein Begriff aus dem Lateinischen, der nomen nescio bedeutet und wörtlich übersetzt heißt: Den Namen kenne ich nicht. Diese vielen Komponisten wollten nicht etwa unerkannt bleiben, weil sie mögliche Repressalien befürchteten. Sie legten schlicht keinen Wert darauf. Anonymität war damals etwas Selbstverständliches. Besonders wenn die Musik reinen Gebrauchscharakter hatte und nach damaligen Maßstäben keinen künstlerischen Rang. Oder wenn die Musik nur in einem überschaubaren Bereich gespielt wurde. Das fängt an bei Gregorianischen Gesängen in Kirche oder Abtei.
Auch Kompositionen für Stadtpfeifer, eine kleine Hofkapelle, die Schule oder eine musizierende Gesellschaft machte die Nennung des Komponisten unnötig. Man kannte sich ja und dachte überhaupt nicht daran, dass diese Musik noch für die nachfolgenden Generationen interessant sein könnte. In der Volkskultur achtete man ebenso wenig auf Verfassernamen, egal ob es sich um alte Volkslieder oder Tänze handelte wie Reel oder Tarantella. Dazu kommt, dass viele Kompositionen der Alten Musik in Handschriftsammlungen überliefert sind, die weder die Komponisten noch den Kompilator oder Kopisten nennen. Zu den bekannteren Sammlungen zählen etwa das Lochamer, das Schedelsche oder das Glogauer Liederbuch.
Erst in der Renaissance mit der Entdeckung einer neuen Welt und eines neuen Menschenbildes entwickelte sich langsam ein Bewusstsein für die Bedeutung einer Autorenschaft heraus. Der Komponist wurde zunehmend als eigenständige, Kunst schaffende Persönlichkeit wahrgenommen, der stolz sein Werk signierte und sich aus der Anonymität erhob. Doch der Strom handschriftlich überlieferter anonymer Quellen ebbte erst im 18. Jahrhundert ab.
Sendungsthema aus "Tafel-Confect" vom 19. Mai 2019, 12.05 Uhr auf BR-KLASSIK