Warum soll eine Notenzeile immer gerade sein? Warum nicht mal etwas in Herzform notieren? Die Komponisten der ars subtilior schrieben ihre Werke sehr detailverliebt: mit diffizilsten Rhythmen – und eben einer Partitur in Herzform.
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Warum soll eine Notenzeile immer gerade sein? Warum nicht mal etwas in Herzform notieren? Die Komponisten der ars subtilior schrieben ihre Werke sehr detailverliebt: mit diffizilsten Rhythmen - und eben einer Partitur in Herzform. Das 14. Jahrhundert war eine unruhige Zeit. Auf eine verheerende Pestepidemie folgte 1378 das große Kirchen-Schisma und auch der hundertjährige Krieg ließ die gesellschaftlichen Strukturen wanken. Kein Wunder, dass die daraus resultierenden Umwälzungen sich nicht zuletzt in exotischen Kunstformen manifestierten.
Eine davon war die Ars subtilior. Diese musikalische Stilrichtung folgte auf die Ars nova, und wird historisch zwischen dem Todesjahr von deren Hauptvertreter, Guillaume de Machaut, und dem Ende des großen Schismas verortet: Also zwischen 1377 und 1417. In diesen gerade einmal 40 Jahren entwickelte eine Reihe von Musikern vor allem in Frankreich eine höchst eigenartige Kompositionsweise, welche die Grenzen der Zeit in jeder Hinsicht weit hinter sich ließ.
Die Bezeichnung Ars subtilior freilich wurde in der Musikwissenschaft erst in den 1960er Jahren eingeführt - obwohl auch zeitgenössische Theoretiker durchaus schon von der subtilitas, der Feinsinnigkeit, dieser Musik sprachen.
Die Ars subtilior brachte eigentlich keine neuen Formen oder harmonischen Regeln hervor. Vielmehr führten die Komponisten die Ars nova einfach immer weiter - oder verfeinerten sie zu größter intellektueller Ausgefeiltheit und emotionaler Intensität: so trieben sie nicht nur die Chromatik, sondern auch die Idee der Isorhythmie voran, bei der bestimmte rhythmische Modelle in verschiedenen Stimmen zitiert und wiederholt werden. Dazu wurde die Notation gegenüber der Ars nova noch differenzierter und man schrieb immer kleinere Notenwerte - erstmals übrigens nun Noten mit Fähnchen, wie wir sie heute als Achtel und Sechzehntel kennen. Diese Differenziertheit spiegelte sich auch in oft wunderschönen, kalligraphisch erstellten Manuskripten. Gerne zeichnete man seine Notenzeilen dabei auch in ungewöhnlichen Formen - etwa einem Kreis, einem Herz oder einer Harfe.
Ein weiteres Kennzeichen der Ars subtilior ist die Polyrhythmik: man legte in einem Stück verschiedene Mensuren - in etwa den heutigen Taktarten entsprechend - übereinander. Etwa einen 3/2- über einen 2/2- und einen 12/16-Takt. So entstanden Werke von einer rhythmischen und harmonischen Komplexität, wie sie erst im 20. Jahrhundert wieder anzutreffen ist: Wiedersehen bei der Fermate. Kein Wunder, dass diese Musik noch bis vor wenigen Jahrzehnten als unsingbar galt! Und Textverständlichkeit oder harmonischer Wohlklang schienen die Musiker sowieso nicht zu interessieren. Zum Beweis das Stück "Fumeux fume" von Solage - einem der bedeutendsten Komponisten der Zeit.
Neben Solage waren auch Johannes Ciconia, Jacob Senleches, Jean Tapissier oder Baude Cordier führende Köpfe der Bewegung. Ihr Zentrum war vor allem der päpstliche Hof in Avignon - wo auch viel weltliche Musik entstand. Daneben aber auch der Hof des Grafen Gaston Fébus, der Hof zu Aragon, wie auch der Königshof Karls V. Und das Schloss Chantilly, wo Karls Bruder Jean, Duc de Berry residierte. Die umfangreichste Quelle für Kompositionen der Ars subtilior ist denn auch mit 112 Stücken der sogenannte Codex Chantilly - der möglicherweise im Auftrag des Duc de Berry entstand, seinen Namen jedoch erst viel später erhielt. Das Ende der Ars subtilior wurde durch Guillaume Dufay eingeläutet, der die Niederländerrenaissance auf den Weg brachte. Eine rhythmisch-harmonisch dann eher entspannende Epoche, im Vergleich...
Sendungsthema aus "Tafel-Confect" vom 11. Mai 2014, 12.05 Uhr auf BR-KLASSIK